(GZ-18-2022) |
► Interview mit Dr. Petra Brandmaier, ärztliche Leiterin der Leitstelle Krisendienst Psychiatrie Oberbayern: |
„Kompetente Hilfe beruhigt, entlastet und stabilisiert“ |
Am 10. September findet alljährlich der Welttag der Suizidprävention statt. Er dient dem Gedenken an Menschen, die durch Suizid gestorben sind. Hilferufe von Menschen, die in einer seelischen Krise ihr Leben beenden wollen, erreichen immer wieder auch den Krisendienst Psychiatrie Oberbayern. Im Interview erklärt die ärztliche Leiterin der Leitstelle, Dr. Petra Brandmaier, wie der Krisendienst die Anrufenden unterstützt und welche Hilfen er anbietet. Pro Jahr nehmen sich in Deutschland fast 10 000 Menschen das Leben, mehr als 100.000 versuchen es. Die Zahl der vollendeten Suizide ist höher als die Summe der Opfer von Verkehrsunfällen, der Krankheit AIDS, von Gewaltverbrechen und illegalen Drogen zusammen. Ist es nicht endlich Zeit, das Thema Suizid zu enttabuisieren, offen darüber zu sprechen und mehr Hilfen anzubieten? Dr. Petra Brandmaier: Sie sprechen mir aus der Seele! Suizidgedanken, Lebensmüdigkeit, Sterbewünsche gehören in schwierigen Lebenslagen, bei leidvollen Lebensgeschichten, bei schweren Kränkungen – einfach bei Krisen jeder Art – zum menschlichen Denken dazu. Fast jede und jeder von uns kennt sie, zumindest flüchtig. Und wir hier beim Krisendienst wissen, welcher Sog durch den vollendeten Suizid einer bekannten Persönlichkeit entstehen kann. Angebote, dieses Thema scham- und schuldbefreit anzusprechen, sind dringend erforderlich. Gespräche sind der erste Zugang zu jeder weiteren Hilfe und direkte Suizidprophylaxe. Deutliche Zunahme unter Kindern und Jugendlichen Beim Krisendienst unterstützen Sie auch Menschen mit Suizidgedanken. Wie oft erreichen Sie Anrufe von Menschen, die sich das Leben nehmen wollen? Brandmaier: Insgesamt hatte der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern im Jahr 2021 rund 29.000 Telefonkontakte. In 11,4 Prozent der Fälle spielte Suizidalität eine Rolle. Glücklicherweise gab es in den letzten Jahren laut Statistik und trotz Corona keine Zunahme der Suizidzahlen. Allerdings ist insbesondere bei Kindern und Jugendlichen die Rate der Suizidversuche angestiegen. Gerade für die Altersgruppe der 10- bis 20-Jährigen haben seelische Belastungen und psychiatrische Erkrankungen deutlich zugenommen. Wer wendet sich öfter an den Krisendienst: die Betroffenen selbst oder Angehörige? Brandmaier: Den größten Anteil machen Anrufe der Betroffenen aus. 2021 waren es 65 Prozent. Platz zwei nehmen mit 20 Prozent die Kontaktaufnahmen durch Angehörige oder das nähere Umfeld ein. Der Anteil der Fachstellen, die uns kontaktieren, liegt bei vier Prozent. Anzeichen beachten Gibt es Anzeichen, auf die Angehörige und das soziale Umfeld achten sollten? Brandmaier: Ungewohnte Schweigsamkeit, Rückzug aus sozialen Begegnungen, auch Reizbarkeit, die man so von einer vertrauten Person nicht kennt, Schlafschwierigkeiten oder eine Einengung des Denkens können Hinweise sein. Aber auch eine plötzliche Besserung des Befindens – die sogenannte Ruhe vor dem Sturm – nach einer sehr niedergestimmten Zeit kann ein Warnsignal sein. Hilfe in Anspruch nehmen Was raten Sie, wenn Angehörige diese Anzeichen bemerken? Brandmaier: Generell möchte ich dazu ermutigen, immer das Gespräch zu suchen, nachzufragen, sich zu interessieren, offen zu sein. Wichtig ist, Urteil und Wertung dabei zu vermeiden. Und ganz unbedingt: sich nicht zu scheuen, Hilfe in Anspruch zu nehmen! Das können Menschen aus der Familie oder dem Freundeskreis sein, der Hausarzt oder eben auch der Krisendienst. Wir stehen 24/7 – also rund um die Uhr – für alle in Oberbayern lebenden Menschen zur Verfügung. Was sind Gründe für den Wunsch, aus dem Leben zu scheiden? Brandmaier: Die Beweggründe sind mannigfaltig und sehr individuell. Vielen gemeinsam ist jedoch der Wunsch, die aktuell unerträglichen Gefühle nicht mehr aushalten zu müssen und anderen nicht mehr zur Last zu fallen und der Glaube, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Wie gehen Sie und Ihre Mitarbeitenden vor? Brandmaier: Zunächst versuchen wir eine vertrauensvolle Gesprächsbasis zu schaffen. Wir wollen ergründen, warum der Kontakt mit uns stattfindet und warum gerade jetzt. Es ist uns ein grundlegendes Anliegen, Interesse zu zeigen, Anteil zu nehmen und zu verstehen, in welcher Situation sich ein Mensch befindet. Im Weiteren ist es uns wichtig, den in der Regel extrem eingeengten Blick unserer suizidalen Klientinnen und Klienten wieder zu weiten, um gemeinsam erste Lösungsschritte zu entdecken und zu erarbeiten, wie sie genutzt werden können. Welche Hilfen kann der Krisendienst anbieten? Brandmaier: Zunächst bieten wir eine telefonische Entlastung und Klärung der Situation an. Wir beraten und informieren außerdem über weitere geeignete Stellen, wo man Hilfe bekommt. Dies ist in den meisten Fällen ausreichend. Darüber hinaus haben wir in der Leitstelle die Möglichkeit, mobile Einsatzteams zu beauftragen, die direkt zum Ort der Krise fahren können oder an festgelegten Standorten für persönliche Kontakte zur Verfügung stehen. Wir kooperieren mit psychiatrischen Ambulanzen und Versorgungskliniken sowie für akute Notfälle auch mit der Polizei und Rettung. Nach der akuten Krise: Wie gelingt es, die Betroffenen zu stabilisieren? Brandmaier: Die Anrufenden haben zumeist einen sehr eingeengten Blickwinkel, das sogenannte Tunnelempfinden. Diesen Blick aufzumachen, hilft oft schon viel. Damit die Betroffenen wieder erkennen können, was doch noch möglich ist. Wir nehmen uns Zeit, um wirklich zu erfassen, um was es geht. Ein Stück weit halten wir gemeinsam mit dem Anrufenden aus, was ihn belastet. Aber auch die Organisation von Unterstützung, die Vermittlung in fachkompetente Hilfen oder der Hinweis, wohin sich jemand mit seinem Problem im Weiteren wenden kann, beruhigt, entlastet und stabilisiert. Mitarbeitende in belastenden Situationen begleiten Kam es schon vor, dass Sie nicht helfen konnten und sich jemand das Leben nahm? Brandmaier: Ich arbeite jetzt seit 2017 für den Krisendienst, und glücklicherweise sind mir im direkten Zusammenhang mit der Leitstelle keine Suizide bekannt. Während meiner psychiatrischen Tätigkeit kam es vier Mal vor, dass ich eine Patientin oder einen Patienten durch Suizid verloren habe. Jede einzelne Person ist mir deutlich in Erinnerung, und es macht mich immer noch wehmütig, wenn ich an sie denke. Die Frage nach dem Warum und danach, was ich anderes hätte tun können oder was ich unter Umständen versäumt habe, stelle ich mir heute noch. Wie gehen Sie und Ihre Mitarbeitenden mit solch belastenden Situationen um? Brandmaier: Die Nachbesprechungen mit Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzen und der Fallsupervision helfen und sind extrem wichtig. Aber auch das Bewusstsein, dass wir die Möglichkeit des Suizids immer mitdenken und ansprechen müssen, ist mir wichtig. Und dass wir nicht müde werden dürfen, alles zu versuchen und anzubieten, um diesen Schritt zu verhindern. Mit dem Krisendienst gibt es zum Glück bayernweit ein niederschwelliges Rund-um-die-Uhr-Angebot, das hoffentlich vor allem auch suizidale Menschen erreicht. Weitere Informationen Der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern gehört zum bayernweiten Netzwerk Krisendienste Bayern (www.krisendienste.bayern) und ist rund um die Uhr erreichbar. Unter der einheitlichen Rufnummer 0800 / 655 3000 werden die Anrufenden zu der für ihren Wohnort zuständigen Leitstelle geroutet. 2021 hatte der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern rund 29.000 Telefonkontakte. Die mobilen Krisenteams haben fast 2 000 Vor-Ort-Einsätze durchgeführt. Der Bezirk Oberbayern finanziert den Krisendienst Psychiatrie mit rund 16 Millionen Euro pro Jahr; dazu steuert der Freistaat Bayern für die Kosten der Leitstelle rund 3,1 Millionen Euro bei.
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