Interviews & Gesprächezurück

(GZ-23-2022)
GZ-Interview mit Kulturgeograph Dr. Stefan Kordel, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
 

► GZ-Interview mit Kulturgeograph Dr. Stefan Kordel, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg:

 

Zuwanderung in ländlichen Räumen:  EU-Projekt MATILDE abgeschlossen

Welche Auswirkungen hat die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen in ländlichen Regionen und Berggebieten in Europa? Diese Frage stand im Zentrum des dreijährigen Verbundforschungsprojektes MATILDE, ein Akronym für „Migration Impact Assessment to Enhance Integration and Local Development in European Rural and Mountain Regions“, das im Zuge des EU-Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 gefördert wird. Das Konsortium bestand aus 12 Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie 13 Praxispartnern aus 10 verschiedenen Ländern (vgl. GZ 24-2020). Die zentralen Ergebnisse des Projektes wurden im November auf der Abschlusskonferenz in Villach (AUT) vorgestellt und diskutiert. Kulturgeograph Dr. Stefan Kordel von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg verantwortete die Fallstudie in Bayern und stand für unsere Fragen zur Verfügung.

V.l.: Stefan Kordel, Tobias Weidinger, Anne Güller-Frey und David Spenger vor der Hochschule Kärnten in Villach. Foto: FH Kärnten
V.l.: Stefan Kordel, Tobias Weidinger, Anne Güller-Frey und David Spenger vor der Hochschule Kärnten in Villach. Foto: FH Kärnten

Herr Dr. Kordel, was war das Ziel der MATILDE-Studie und welchen inhaltlichen Schwerpunkt legten Sie in Bayern?

Kordel: Ländliche Räume und Berggebiete sind längst nicht mehr nur Abwanderungsregionen. Vielmehr machen gerade in Bayern unterschiedlichste Zuwanderungsprozesse das Land bunter und vielfältiger. Ihre Protagonist:innen verändern Orte und Regionen, ob bewusst oder unbewusst. Im MATILDE Projekt fokussierten wir in Bayern die Auswirkungen von Zuwanderung im Bereich Arbeitsmarkt.

In der Vergangenheit wurde immer wieder kritisiert, dass die Anwerbung von Arbeitskräften zu einseitig auf die betriebliche Integration fokussiert sei, ganz nach dem Motto von Max Frischs Ausspruch „Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen“. Wie reagiert Ihre Studie auf diese Kritik?

Kordel: Die Teilhabe von Migrant:innen am Arbeitsmarkt wird im politischen Diskurs häufig als Indikator für „erfolgreiche Integration“ betrachtet. Vor dem Hintergrund des hohen Arbeitskräftebedarfs in Sektoren wie Gesundheit und Pflege, Hotellerie und Gastronomie oder dem Handwerk sind Personen, die zuwandern auch für Unternehmen wertvolle Ressourcen. Aber auch für Neuzugewanderte selbst erfüllt der Arbeitsplatz vielfältige und ermöglicht schließlich ein selbstbestimmte(re)s Leben. Anders als andere Studien wählten wir einen multiperspektivischen Ansatz, das heißt, wir haben sowohl die Perspektive von Unternehmen, als auch von regionalen Akteuren und von Migrant:innen selbst miteinbezogen. Die Herausforderung besteht letztendlich für alle Seiten darin, Beschäftigung nachhaltig zu gestalten. Dafür müssen verschiedene Phasen, Anwerbung, Einarbeitung und das Halten von Arbeitskräften gestaltet werden. Das heißt, wir konnten gemeinsam mit unserem Praxispartner Tür an Tür Integrationsprojekte gGmbH in Augsburg untersuchen, wie diese drei Phasen funktionieren und welche Hürden es dabei zu berücksichtigen gilt.

Welche Anwerbestrategien konnten Sie identifizieren?

Kordel: Im Bereich der Anwerbung fanden sich verschiedene Wege, um Arbeitskräfte aus Drittstaaten mit den Unternehmen in der Region zusammenzubringen. Neben der Inanspruchnahme privater und öffentlicher Vermittlungsagenturen, stand besonders die Inwertsetzung persönlicher Netzwerke im Vordergrund. Letzteres betrifft sowohl Drittstaatsangehörige, die aus dem Ausland angeworben werden, als auch jene, die bereits vor Ort sind, z.B. als Geflüchtete. Als größte Hürden bei der Anwerbung konnten wir die lange Dauer von Visaverfahren und die Ausstellung von Arbeitsgenehmigungen sowie die Anerkennung von Berufsqualifikationen identifizieren. Zentral ist außerdem die Notwendigkeit zur Bereitstellung bzw. Vermittlung von Wohnraum in der Nähe der Arbeitsstelle.

Wie funktioniert die Einarbeitung in den von Ihnen untersuchten Betrieben und welche Hürden sehen Sie dabei?

Kordel: Um die sprachlichen Schwierigkeiten sowie fehlende Kenntnisse über Arbeitsabläufe bei der Einarbeitung zu überwinden, versuchen Betriebe eine enge Begleitung z.B. durch Mentor:innen bereitzustellen. Diese unterstützen allerdings nicht nur im Arbeitsalltag, sondern helfen auch bei der Orientierung am neuen Wohnort und bei der Abwicklung von bürokratischen Vorgängen. Als weitere Schwierigkeiten in der Anfangszeit nannten Migrant:innen Heimweh und langes Warten auf den Familiennachzug sowie Verpflichtungen zur finanziellen Unterstützung von Familienangehörigen im Herkunftsland. Darüber hinaus wurde von einer unausgeglichenen work-life balance berichtet, da vor allem in den Sektoren Hotellerie und Gastronomie und Gesundheit und Pflege die Arbeit als anstrengend beschrieben wird und die individuelle Zeitsouveränität auch an den Wochenenden beschneidet.

Das Leben auf dem Land ist nicht für alle attraktiv. Was führt dazu, dass Drittstaatsangehörige auf dem Land wohnen bleiben und so auch für die Betriebe nicht verloren gehen?

Kordel: Gefragt nach dem Bleiben im Betrieb, im Sektor und in der Region nennen Drittstaatsangehörige vor allem arbeitsbezogene Themen, wie den Abschluss der Berufsausbildung, ein gutes Arbeitsklima und eine zufriedenstellende Bezahlung. Das Vorhandensein von vielfältigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten wird ebenso in die Entscheidung, vor Ort zu bleiben, miteinbezogen. Darüber hinaus ist die Bleibeorientierung von Faktoren abhängig, die über den Arbeitsalltag hinausreichen. So ist für Drittstaatsangehörige das soziale Eingebundensein wie auch das Freizeitangebot für sich und für Familienangehörige vor Ort sehr wichtig. Der häufig unzureichend ausgebaute ÖPNV stellt häufig ein Hindernis dar, um diese Orte zu erreichen und sie mit dem Berufsalltag zu vereinbaren. Insbesondere junge Erwachsene bevorzugen daher einen Umzug in die nächstgrößere Kreisstadt, um der häufig geäußerten Langeweile auf dem Land zu entgehen.

Weitere Informationen: www.matilde-migration.eu

 

 

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