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(GZ-12-2024 - 20. Juni)
Herbert Lang, Vorsitzender des Vorstands des pharmazeutischen Großhändlers Sanacorp: Apotheken vor Ort - „Wir werden weitere Schließungen sehen“
 

► Herbert Lang, Vorsitzender des Vorstands des pharmazeutischen Großhändlers Sanacorp:

 

Apotheken vor Ort: „Wir werden weitere Schließungen sehen“

Autor Florian Christner, Redaktion „Profil“, Genossenschaftsverband Bayern

Die deutschen Apotheken stehen wirtschaftlich enorm unter Druck. Was die Mitglieder des genossenschaftlichen Pharma-Großhändlers Sanacorp bewegt, sagt Vorstandschef Herbert Lang.

Herr Lang, laut der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) ist die Zahl der Apotheken in Deutschland zum Jahresende 2023 auf das Allzeittief von 17.571 gesunken. Das sind 497 Apotheken weniger als zum Jahresende 2022 – der größte jährliche Verlust an Apotheken in der Geschichte der Bundesrepublik.

Worauf führen Sie den Rückgang zurück?

Herbert Lang: 500 Apothekenschließungen in nur einem Jahr, das ist eine dramatische Entwicklung, die mir große Sorgen bereitet. So etwas hatten wir noch nie. Die Ursachen für diesen historisch einmaligen Rückgang sind in der wirtschaftlichen Situation der Apotheken zu suchen, die mittlerweile mehr als angespannt ist.

Die gesetzlich festgelegten Apothekerhonorare für verschreibungspflichtige Arzneimittel wurden letztmals vor über zehn Jahren angepasst. Seitdem ist nichts mehr passiert. Gleichzeitig sind die Ausgaben wie bei allen Unternehmen massiv gestiegen, insbesondere die Personal- und Energiekosten. Inzwischen stehen die Apotheken wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand.

Ohne Einkaufsvorteile durch den pharmazeutischen Großhandel zahlen sie bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln zwischenzeitlich 0,46 Euro pro Packung drauf. Sie kommen also nur noch durch die Einkaufsvorteile des Großhandels einigermaßen auf null.

Erhöhte Umsätze der Apotheken in der Corona-Zeit hatten die schwierige Situation ein Stück weit verdeckt, aber jetzt steht es bei vielen Apotheken Spitz auf Knopf. Um es kurz zu machen: Eine Anpassung der Apothekerhonorare ist mehr als überfällig.

Was passiert, wenn keine Anpassung der Apothekerhonorare kommt?

Lang: Ich fürchte, wir werden weitere Schließungen sehen. In früheren Jahren haben in Deutschland pro Jahr zwischen 200 und 280 Apotheken aufgegeben, diese Zahl hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt. Wir sehen die Zahlungsschwierigkeiten unserer Mitglieder auch bei uns im Debitorenmanagement, das hat dramatisch zugenommen. Ich würde behaupten, dass momentan ein Drittel aller selbstständigen Apotheken in Deutschland defizitär arbeitet. Eine Zahl, die nichts Gutes erwarten lässt.

Welche Folgen hätte es für die Menschen, wenn noch mehr Apotheken vor Ort schließen?

Lang: Am Ende des Tages wirkt sich die Schließung jeder einzelnen Apotheke auf die Versorgungssituation aus. In vielen Städten, vor allem Großstädten, ist die Situation noch nicht dramatisch. Wenn eine Apotheke aufgibt, ist die nächste meist nicht weit. Auf dem Land sieht das jedoch ganz anders aus. Da beträgt die Fahrzeit mit dem Auto häufig schon heute 20 bis 30 Minuten bis zur nächsten Apotheke. Das macht es vor allem Menschen, die nicht mehr so mobil sind, schwer, schnell und unkompliziert an ihre oftmals lebenswichtigen Medikamente zu kommen. In der Fläche steht die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung durch Apotheken inzwischen massiv infrage. Das muss man leider so sagen.

Wobei es inzwischen auch in Ballungsgebieten ganze Stadtteile ohne Apotheke vor Ort gibt. Das hängt auch davon ab, wie hoch die Ladenmieten sind. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei der Versorgung mit Apotheken vor Ort eher am unteren Ende.

Lieferengpässe bei Medikamenten waren zur Corona-Zeit und auch im vergangenen Jahr ein großes Thema in Politik und Medien. Wie sieht es heute aus?

Lang: Bei Kinderfiebersäften kann ich Entwarnung geben. Da ist die Situation momentan entspannt. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch rund 500 Arzneimittel, davon viele lebenswichtige Medikamente, die aktuell entweder nur schwer oder gar nicht verfügbar sind.

Die Apothekerinnen und Apotheker vor Ort haben deshalb weiterhin alle Hände voll zu tun, Lieferengpässe zu managen und nach Alternativen zu suchen. Diese Zeit geht ihnen vom normalen Geschäft ab, zumal ihnen diese Arbeit keiner bezahlt. Auch deshalb sollten die Honorare dringend angepasst werden.

Was schlagen Sie zur Lösung der Lieferengpässe vor?

Lang: Dieses Problem kann man nicht kurzfristig lösen, auch nicht durch Gesetze, machen wir uns nichts vor. Die Sanacorp ist zwar jetzt verpflichtet, bei bestimmten Arzneimitteln einen höheren Lagerbestand vorzuhalten.

Allerdings können wir nur auf Lager legen, was wir auch geliefert bekommen. Niemand kann vorhersagen, wann in China oder Indien eine Fabrik für bestimmte Arzneimittelgrundstoffe ausfällt und die Produktion zum Erliegen kommt. Wir können vorbeugend gar nicht genug Ware auf Lager legen, um solche Ausfälle zu überbrücken.

Die Situation ist also nach wie vor sehr kritisch, wenngleich sie nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Aktuell betreffen die Engpässe vor allem kleinere Patientengruppen und nicht mehr unsere Kinder, was im vergangenen Jahr für den enormen öffentlichen Aufschrei gesorgt hat.

Es müsste sich also grundlegend etwas ändern?

Lang: Das Grundproblem ist die enorme Abhängigkeit der Arzneimittelproduktion von außereuropäischen Lieferanten. Daran wird sich erst dann etwas ändern, wenn die Politik alles daransetzt, die Pharmaproduktion wieder zurück nach Deutschland oder zumindest nach Europa zu holen.

Über 70 Prozent unserer Arzneimittel werden in China oder Indien produziert. Das betrifft nicht nur fertige Medikamente, sondern auch Ausgangsstoffe, Hilfsstoffe und Verpackungsmaterialien. Die Digitalisierungswelle hat den gesamten Gesundheitssektor erfasst.

Inwiefern sind die Online- und Versandapotheken für die Apotheken vor Ort mittlerweile zur Konkurrenz geworden?

Lang: Bisher hatten die Versandapotheken bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln einen Marktanteil von 1,0 bis 1,5 Prozent, also eher vernachlässigbar. Dafür gab es einen Grund, und der hieß Papierrezept. Wer bei einer Versandapotheke ein Rezept einlösen wollte, musste dieses bisher irgendwo hinschicken, in der Regel nach Holland. Dort wurde das Rezept kontrolliert und das Medikament anschließend verschickt. Bis das Medikament dann da war, sind zwei bis vier Tage vergangen. Da waren die Apotheken vor Ort immer schneller.

Jetzt haben wir seit 1. Januar 2024 das E-Rezept und alles soll elektronisch abgewickelt werden. Theoretisch lässt sich das E-Rezept auch an eine Versandapotheke im Ausland weiterleiten. Aktuell ist das aus technischen Gründen aber noch nicht möglich. Wenn dieses Hemmnis in absehbarer Zeit wegfällt, dann werden die Versandapotheken für die Apotheken vor Ort zu einem ernsthaften Wettbewerber.

Wie hoch schätzen Sie das Potenzial der Versandapotheken ein?

Lang: In anderen Ländern wie den USA, wo Versandapotheken seit vielen Jahren etabliert sind, liegt deren Marktanteil zwischen 15 und 20 Prozent. Ich halte es für möglich, dass der Marktanteil in Deutschland perspektivisch auf zehn bis zwölf Prozent klettert. Ich nenne ganz bewusst einen etwas niedrigeren Prozentsatz als in den USA, weil die Vereinigten Staaten abseits der Ballungsräume ein sehr dünn besiedeltes Land sind.

In Deutschland ist die Bevölkerungsdichte viel höher und es gibt trotz aller Schließungen immer noch die Apotheken vor Ort. Von daher ist bei uns die Notwendigkeit nicht so stark gegeben, Rezepte online einzulösen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Corona-Zeit alle gelernt haben, Besprechungen digital abzuhalten und online alle möglichen Dinge einzukaufen. Das lief relativ problemlos und war bequem. Diese Bequemlichkeit möchten die Verbraucher nicht mehr missen.

Florian Christner, Redaktion „Profil“, Genossenschaftsverband Bayern

 

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