Erscheinungs- & Themenplanzurück

(GZ-10-2019)
Neues von Sabrina
 

Wo bleibt die fundierte Meinungsbildung?

Gestern hat mein Chef gesagt...

Der Sieg der Oberflächlichkeit – sichtbar am scheinbar zu schwierigen Matheabitur – betrachtet der Bürgermeister als direkten Angriff auf unsere Werte, unsere Zivilisation und unsere Demokratie, denn eine aufgeklärte Gesellschaft lebt von einer fundierten Meinungsbildung.

„Ups, jetzt hat der Freistaat, ja ganz Deutschland, einen neuen Skandal: Das Mathe-Abitur war schwer! Und wegen einer Online-Petition von überforderten Schülern und überbehütenden Eltern drehen die Medien hohl.“ Mein Chef, der Bürgermeister, verabschiedete gerade die Leiterin unseres Gymnasiums, die ihm von der eifrigen und eifernden Diskussion um die diesjährigen Prüfungsangaben berichtet hat.

Klar, an Mathe scheiden sich die Geister. Diejenigen, denen das mathematische Prinzip einleuchtet und die das logische Knobeln lieben, schütteln den Kopf über diejenigen, die auf Partys ihre Lässigkeit durch ein hingeworfenes „aber in Mathe war ich immer unterirdisch“ zu unterstreichen versuchen. Hingegen fragen sich diejenigen, denen Zahlen halt nicht so viel zu sagen haben, mit gewissem Recht, ob das Fach nicht etwas zu viel Stellenwert an allen Schularten hat. Der Bürgermeister jedenfalls konnte sein Abi noch ohne Matheprüfung bauen und aus ihm ist auch etwas Brauchbares geworden.

Aber unabhängig, wie die Sache nun ausgeht, ob es bei den Ergebnissen bleibt oder ob gnadenhalber die Korrektur korrigiert wird: Eine Begründung, warum die Prüfung angeblich so unmenschlich schwer war, gibt zu denken: Die textlichen Angaben für die Aufgaben seien zu lang gewesen. Bitte wie? Kriegen es 17- oder 18-Jährige am Ende von zwölf Schuljahren nicht mehr auf die Reihe, aus einer Textaufgabe die wichtigen Informationen herauszufiltern?

Tatsächlich scheint es ein Trend der Zeit zu sein, sich nicht mehr mit langen Texten, gründlichen Analysen oder differenzierten Argumentationen auseinandersetzen zu wollen. Das Internet schafft zwar die Möglichkeit, schier unbegrenzt an Informationen und Diskussionsbeiträge heranzukommen und mit den Sozialen Medien gelingt es, in Echtzeit Gedanken, Argumente und Meinungen mit Menschen aus aller Welt auszutauschen. Aber es scheint so, als würden immer weniger Leute das für eine vertiefte eigene Meinungsbildung oder für hinterfragende Analysen nutzen.

Ein Phänomen, das auch die Netzgemeinde offensichtlich zunehmend mit Unbehagen registriert. Nicht umsonst stand das vor ein paar Tagen zu Ende gegangene große Stelldichein der Nerds, die re:publica19, unter dem Motto „tl;dr“ (too long, didn’t read), weil diejenigen, die sich ernsthaft mit den Herausforderungen der Digitalisierung beschäftigen, auch wissen, dass unsere komplexe Welt sich nicht auf 140 oder 280 Zeichen reduzieren lässt.

Dabei tröstet es nicht, dass zum Beispiel dem amerikanischen Präsidenten nachgesagt wird, er lese weder lange Memos, noch interessierten ihn komplexe Lageberichte. So könne eine schmissig gemachte Fernsehreportage auf Fox-News die amerikanische Politik vielleicht nachhaltiger beeinflussen, als ein seriöser Forschungsbericht.

Dieser Sieg der Oberflächlichkeit ist ein direkter Angriff auf unsere Werte, unsere Zivilisation und unsere Demokratie, denn eine aufgeklärte Gesellschaft wie wir sie haben, lebt von einer fundierten Meinungsbildung und von Entscheidungen auf der Basis von rationalen Erwägungen. Wenn uns die Fähigkeit abhandenkommt, uns mit einem Text länger als ein paar Minuten zu beschäftigen und unsere eigenen Schlüsse aus ihm zu ziehen, dann sieht es langfristig düster aus. Mein Chef, der Bürgermeister, macht ähnliche Erfahrungen gerade jetzt im Europawahlkampf:

Wenn man einen Sachverhalt mit mehr als drei Sätzen erklären muss, schalten viele Leute auf Durchzug. Fatal bei komplexen Themen und gut für die großen Vereinfacher, die für jedes Problem gleich einen Sündenbock anbieten können, ob nun Brüsseler Bürokraten oder Zuwanderer. Dabei wird man klare und nachvollziehbare, vor allem aber erklärbare Entscheidungen nie ohne gründliche Vorbereitung und Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aspekten einer Sache treffen können. Denen, die unwillig sind, sich mit komplexen Fragen zu beschäftigen, sei ein Wort Albert Einsteins ans Herz gelegt:

„Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher.“

Ihre Sabrina

GemeindeZeitung

Neues von Sabrina

GZ Archiv

Kolumnen & Kommentare aus Bayern

AppStore

TwitterfacebookinstagramYouTube

Google Play

© Bayerische GemeindeZeitung