Aus den Kommunenzurück

(GZ-14-2023 - 20. Juli)
gz aus den kommunen
GZ-Plus-Mitgliedschaft

► Enormer Leidensdruck:

 

Alles verlassen und nun allein

Der Bedarf an Flüchtlingsberatung kann bei weitem nicht mehr gedeckt werden

 

Sie hocken ganz alleine da und die Probleme wachsen ihnen über den Kopf: Dutzende Flüchtlinge aus Main-Spessart sind nicht mehr an das Beratungsangebot der Caritas angebunden. „Um den Bedarf zu decken, bräuchten wir mindestens zwei weitere Stellen“, sagt Anna-Lena Ludwig von der Flüchtlings- und Integrationsberatung. Fünf auf 2,75 Stellen aufgeteilte Männer und Frauen umfasst das Team: „Pro halbe Stelle kümmern wir uns um 150 Personen.“

Die Crux liegt für Ludwig darin, dass der Bedarf anscheinend gar nicht richtig wahrgenommen wird. Tatsächlich ist er nach Auskunft der Flüchtlingsberaterin riesig: „In Lohr gibt es eine zweite Gemeinschaftsunterkunft mit rund 70 Personen, um die wir uns nicht mehr kümmern können, in Steinbach sind 50 Personen betroffen.“ Auch in Marktheidenfeld können wahrscheinlich mindestens 150 geflüchtete Männer und Frauen keine Beratung von den Caritas-Fachkräften mehr erhalten. Ehrenamtliche, die das Defizit kompensieren, sind rar gesät: „Eine richtige Helferstruktur existiert im Grunde nur noch in Lohr.“

Jeder Geflüchtete hofft, am Ende eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Voraussetzung ist, dass der Asylantrag positiv beschieden wird. Nun ist das Asylverfahren eine langwierige und komplizierte Sache. Flüchtlinge, so Ludwig, sind verpflichtet, dabei mitzuwirken: „Doch wie kann man seine Mitwirkungspflichten erfüllen, wenn man gar nicht weiß, was man tun soll.“ Was man tun soll, steht zwar in den behördlichen Schreiben. Doch Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien eingewandert sind, sprechen kein Deutsch. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen jemand hilft, die Behördenbriefe zu verstehen. Aktuell erhalten etliche keine Hilfe.

Enormer Leidensdruck

Soll man im eigenen Land elend und qualvoll zugrunde gehen? Oder soll man den letzten Strohhalm ergreifen und die gefährliche Flucht wagen? Tausende Menschen stehen derzeit vor diesem Dilemma. „Gerade für Personen aus Afghanistan ist der Leidensdruck enorm“, sagt Ludwig. Hier angekommen, erleben die meisten laut der Flüchtlingsberaterin allerdings einen „großen Realitätscrash“. Das Land, das ihnen wie das Paradies erschien, birgt immenses Frustpotenzial. Das Team der Caritas-Beratungsstelle kennt Asylbewerber, denen es psychisch sehr schlecht geht – bis hin zur Suizidalität.

Da ist zum Beispiel der Syrer, der eine irre Angst um seine Familie hat. „Kürzlich erzählte er mir, man wisse in Syrien, dass er hier ist, deshalb sei sein Sohn entführt worden, man wollte Lösegeld erpressen“, berichtet Ludwig. Seit fast einem Jahr versucht der Mann, seine Familie über den Libanon zu ihm nach Main-Spessart zu holen: „Doch er bekommt einfach keinen Termin bei der libanesischen Botschaft.“ Immer wieder erhält die Flüchtlingsberaterin verzweifelte Mails von diesem Klienten. Immer wieder wird sie angefleht, das Verfahren doch bitte zu beschleunigen.

Unüberwindbare Hürden

Die Beraterin hat auch schon in dieser Angelegenheit nachgefasst. Doch vergebens. Sie kann nichts tun: „Was die psychische Situation des Mannes weiter verschlechtert.“ Psychologische Hilfe zu vermitteln, ist schwierig. Selbst die ganz normale medizinische Versorgung stellt das Team der Beratungsstelle seit längerem vor schier unüberwindbare Hürden: „Die Suche nach einem Arzt ist total schwierig und extrem frustrierend.“ Lohrer Hausärzte nehmen schon seit einer ganzen Weile keine neuen Patienten mehr auf: „Wir telefonieren uns die Finger wund, bis wir einen Arzttermin erhalten.“

Handicap Masernimpfung

Erschwerend hinzukommt, dass Flüchtlinge im Asylverfahren beim Landratsamt im Voraus einen Krankenschein für den Arzt bestellen müssen. „Dieser Schein gilt nur für einen einzigen Arzt und er ist nur für drei Monate gültig“, erklärt Ludwig. Für einen Facharzt wird oft nur ein Tagesschein ausgestellt. Nun kam es unlängst vor, dass der Schein in der Post steckenblieb. Dabei ging es um ein Ehepaar, das dringend eine Masernimpfung gebraucht hatte, denn ohne eine solche Impfung darf man nicht in die Flüchtlingsunterkunft. Die Beraterin bekam von dem Fall mit und setzte alle Hebel in Bewegung, damit die Behandlung dennoch erfolgen konnte.

Es gibt laut der Flüchtlingsberaterin Ideen, wie man die extrem angespannte Situation entkrampfen könnte: „In anderen Bundesländern zum Beispiel erhält jeder bei der Einreise ein Krankenversicherungskärtchen.“ Damit könne man nicht nach Lust und Laune irgendeinen Arzt aufsuchen: „Es gilt nur für Schmerz- und Notfallbehandlungen.“ Möglich wäre es aber auch, Blankoscheine ohne den Namen eines bestimmten Arztes auszugeben. Die aktuellen Abläufe jedenfalls müssten dringend reformiert werden, denn sie halten das ohnehin völlig überforderte Team der Caritas unnötig auf. Dringend notwendig wäre zudem mehr ehrenamtliches Engagement.

Angesichts der aktuell gigantischen sozialen Probleme ist es für Ludwig nicht akzeptabel, wenn Bürger lediglich alle paar Jahre einmal zur Wahl gehen und pünktlich den festgesetzten Steuerbetrag zahlen. „Jeder muss sich heute fragen, wo er sich, wo er seine Zeit und wo er sein Wissen einbringen kann“, fordert sie. Denn das, was gerade zu bewältigen ist, sei allein mit hauptamtlichen Kräften nicht zu stemmen.

Warum sollte ein Frührentner einen Teil seiner freien Zeit nicht dazu verwenden, sich sozial zu engagieren?, fragt sie sich. Natürlich sei nicht jeder dafür geeignet, in die Flüchtlingsarbeit einzusteigen. Dazu braucht es soziale Kompetenzen und interkulturelle Sensibilität. Allerdings brennt es ja an vielen Ecken und Enden: „Wir müssen dringend weg von der Haltung, dass es genügt, sich auf die eigene Familie und die Rosen im Garten zu konzentrieren.“ Wenig sinnvoll sei es auch, so Ludwig, immer nur auf die Politik zu verweisen.

So viel Zuzug, wie noch nie

Im Jahr 2022 zogen knapp 2,67 Millionen Menschen nach Deutschland. So viele Zuzüge gab es bisher noch nie. Zum Vergleich: 2015 zogen rund 2,1 Millionen Menschen zu. Im Landkreis Main-Spessart befinden sich derzeit (Stand: 1. Juni 2023) 2.271 Flüchtlinge. Rund 1.300 leben nach Auskunft der Regierung von Unterfranken in privaten Wohnungen.

Pat Christ

 

 

Dieser Artikel hat Ihnen weitergeholfen?

Bedenken Sie nur, welche Informationsfülle ein Abo der Bayerischen GemeindeZeitung Ihnen liefern würde!
Hier geht’s zum Abo!

 

GemeindeZeitung

Aus den Kommunen

AppStore

TwitterfacebookinstagramYouTube

Google Play

© Bayerische GemeindeZeitung