Aus den Kommunenzurück

(GZ-10-2024 - 16. Mai)
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► Gleichheit aller Menschen nie aus den Augen verlieren:

 

Weil der Staat irren kann

Was Kommunalpolitikern aus Bayern zu „75 Jahre Grundgesetz“ durch den Kopf geht

 

In der zehnten Klasse des Gymnasiums lernen Jugendliche, mit dem Grundgesetz zu arbeiten. Auch Maurice Schönleben, Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion in Fürth, hat sich zunächst im Sozialkundeunterricht und dann später im Politik- und Geschichtsstudium mit dem Grundgesetz befasst. Was für ihn wichtig war: „Grundrechte nehmen eine elementare Stellung in unserer Rechtsordnung ein“, sagt er anlässlich des diesjährigen Jubiläums „75 Jahre Grundgesetz“. Besonders wichtig ist ihm Artikel 3.

Als Maurice Schönleben in der zehnten Klasse war, hatten homosexuelle Männer ein Grundrecht, das ihnen zum Zeitpunkt seiner eigenen Geburt im Jahr 1991 noch nicht zugestanden worden war. „Bis 1994 wurden sexuelle Handlungen zwischen Männern kriminalisiert“, erinnert der Kommunikationsberater. Diese grundgesetzwidrige Kriminalisierung zeigt für ihn etwas Wesentliches: „Wir brauchen Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat, denn der Staat kann irren und Unrecht begehen.“

Weil politische Herrschaft grundgesetzwidrig ausgeübt werden kann, muss Bürgern nach Überzeugung von Maurice Schönleben ein Beschwerderecht gegenüber dem Staat zugestanden werden. „Wir müssen von einer unabhängigen Justiz eine staatliche Maßnahme oder ein Gesetz auf seine Grundrechtskonformität hin überprüfen lassen können“, führt er aus. An Politiker auf allen Ebenen appelliert er: „Egal, über welches Gesetz, welche Verordnung oder Regelung wir beraten, wir dürfen Artikel 3 des Grundgesetzes, also die Gleichheit aller Menschen, nie aus den Augen verlieren.“

Maurice Schönleben ist bewusst, dass viele Bürger mit bestimmten Corona-Regeln nicht einverstanden waren und dass sie bestimmte Corona-Vorschriften als grundgesetzwidrige Entmündigung empfunden hatten. Der SPDler kann dies nachvollziehen. Wobei er auch sagt: „Politik und Justiz konnten nur auf Grundlage der damals zur Verfügung stehenden Erkenntnisse entscheiden.“ Manche Maßnahme, die retrospektiv „irrsinnig“ erscheint, habe man aufgrund der damals unklaren Informationslage für erforderlich gehalten: „Doch nun ist eine saubere Aufarbeitung der Entscheidungen und Fehlentscheidungen wichtig.“

Gegen Demokratiefeindlichkeit

Maurice Schönlebens Parteikollege Norbert Seidl, Bürgermeister von Puchheim im Landkreis Fürstenfeldbruck, sieht das Grundgesetz als ein wirksames Mittel gegen Demokratiefeindlichkeit an. Es sichere Meinungsfreiheit zu und sei der wichtigste Schutz gegen Tendenzen hin zu Ungleichheit und Unfreiheit. Für ihn persönlich ist die grundgesetzlich garantierte Unantastbarkeit der Würde des Menschen der wichtigste Artikel. Daraus ergäben sich alle anderen Grundgesetzgarantien.

Das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz mit seinen 146 durchnummerierten Artikeln, das bis dato rund 70 Mal geändert wurde, ist kein Stück Literatur wie jedes andere. Kaum jemand hat es in einem Stück von vorne bis hinten durchgelesen. Auch Schüler müssen dies nicht tun. Das wäre auch wenig sinnvoll, meint Norbert Seidl. „Auch, ob Jugendliche die Grundrechte auswendig aufsagen könnten oder nicht, wäre irrelevant“, betont der Hauptschullehrer: „Entscheidend ist das Verständnis für diese Rechtsgrundlage, die unser Zusammenleben regelt.“ Und die zum Beispiel besagt, dass jeder Bürger das Recht hat, gehört und geachtet zu werden.

Nicht immer gehört wurden Bürger, die darlegen wollten, warum sie den Corona-Regeln die Zustimmung verweigerten. Viele konnten das nur auf eigenen Blogs oder in digitalen Medien tun. Viele hatten das Gefühl, dass man sie in der Öffentlichkeit mundtot machen wollte.

Dass die damalige Situation nicht zuletzt im Lichte des Grundgesetzes schwierig war, sieht auch das Amnesty international-Mitglied Norbert Seidl: „Besonders in Bayern wurde Sicherheit durch Quarantäne als oberste Handlungsmaxime ausgegeben.” Vor allem die Isolierung der Kinder und Jugendlichen mit der Folge, dass sich manche junge Menschen im Cyberspace verloren und nicht wenige psychische Störungen entwickelten, bewertet auch er im Nachhinein als „übervorsichtig“. Eine Abwägung hin zu mehr Kindeswohl wäre geboten gewesen.

Frage der Verhältnismäßigkeit

Was im Zeitraum zwischen März 2020 und April 2023 in Bayern galt, sieht auch Hans Kaltenecker, UWB-Fraktionsvorsitzender im schwäbischen Günzburg, heute kritisch: „Im Nachhinein mit dem jetzigen Wissen hätten einige Aktionen anders ablaufen können.“ Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen sieht er heute als „nicht immer im Einklang mit dem Nutzen, der daraus erfolgte“. Gleichzeitig ist Hans Kaltenecker überzeugt, dass damals jeder guten Willens war, das Richtige zu tun: „Respekt vor denen, die in der Verantwortung standen, Maßnahmen treffen zu müssen.“

Das Wichtigste am Grundgesetz ist für den Günzburger Stadtrat die Garantie, dass Menschen aller Kulturen und unabhängig vom sozialen Status in der Bundesrepublik dieselbe Würde zukommt. Diese Würde dürfe von niemandem verletzt werden: „Auch nicht vom Staat.“ Als Abwehrinstrumente schützten eben die Grundrechte die persönliche Freiheit der Bürger vor staatlichen Eingriffen.

Das Grundgesetz habe den Menschen in Deutschland ein Leben in Frieden und Freiheit gesichert und „eine geglückte Demokratie beschert“, hieß es vor zehn Jahren im Bundestag anlässlich der Feier zu „65 Jahre Grundgesetz“. Der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so der Linken-Parlamentarier Gregor Gysi in seinem damaligen Redebeitrag, sei „die einzig richtige Antwort auf die Nazi-Barbarei“ gewesen. Auch für Joachim Jarosch, ÖDP-Fraktionsvorsitzender in Erlangen, ist Artikel 1 der allerwichtigste im Grundgesetz: „Unsere Großeltern des Grundgesetzes haben sich sehr genau überlegt, warum sie ihn an diese Stelle setzen.“

Anliegen des Anderen

Dieser Satz sollte nach Überzeugung von Joachim Jarosch ein ständiger Begleiter im Alltag sein: „Würde bedeutet für mich, dass jeder Mensch das Recht auf einen respektvollen Umgang hat.“ Respekt brauche es vor allem vor den Anliegen und Themen des anderen Menschen. „Würde hat für mich auch etwas mit Nächstenliebe und Menschlichkeit zu tun”, so der ÖDPler. In der heutigen Zeit, die durch digitale, „unsoziale“ Medien geprägt werde, komme dies oft zu kurz: „Wir sollten wieder deutlich mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellen.“

Als Fürsprecher der Corona-Politik kann Joachim Jarosch die aktuell zum Teil massive Kritik am damaligen, nach Ansicht der Kritiker nicht grundrechtskonformen Vorgehen nicht nachvollziehen. „Es hat sich um eine globale Pandemie gehandelt, welche es seit 100 Jahren nicht mehr auf der Welt gegeben hat, und deren tödliche Auswirkungen nicht bekannt waren”, unterstreicht er. Und fragt: „Was würden die Leute heute sagen, wenn durch eine laxe Corona-Politik in der Pandemie mehrere Millionen Menschen gestorben wären und doppelt so viele unter Long-Covid leiden würden als heute eh schon?”

Für Julian Wendel, Behindertenbeauftragter der Stadt Würzburg, ist es erstaunlich, wie „präzise“ die bayerische Regierung in der Corona-Zeit den Meinungen von Wissenschaftlern gefolgt sei. „In der Klimakrise wird die Wissenschaft aber nahezu komplett ignoriert”, so das SPD-Mitglied. Er würde sich wünschen, dass sich Verfassungsrichter mit den damaligen Grundrechtseinschnitten auseinandersetzen: „Nach meinem Verständnis waren die Einschränkungen unverhältnismäßig.“

Entfaltung der Persönlichkeit

Der wichtigste Artikel ist auch für Julian Wendel jener erste, bei dem es um die Würde des Menschen geht. „Davon abgesehen empfinde ich das Grundrecht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit, wie in Artikel 2 formuliert, als einen grundlegenden Baustein für unsere individuelle wie gesellschaftliche Integrität”, sagt er. Dieser Abschnitt gefalle ihm deshalb so gut, weil er nicht nur das Bestehende schützt: „Er formuliert auch das Recht auf eine individuelle und dadurch gesellschaftliche Entwicklung.“

Nach Auffassung des Behindertenrechtsaktivisten nehmen die Grundrechte den Staat in die Pflicht: „Und zwar vor allem in die Pflicht, die Grundrechte zu schützen und damit auch jedes Individuum.“ Dies betreffe ihn als Mensch mit einer Behinderung, der auf Hilfe von öffentlich finanzierten Assistenten angewiesen ist und der dadurch in starker Abhängigkeit lebt, besonders. „Es bedeutet, dass ich mich durch die Berufung auf meine Grundrechte aus diesem Gefüge der Abhängigkeit lösen und ein hohes Maß an Selbstbestimmung erreichen kann“, sagt er.

Bislang keine Verfassung

Als eine der ältesten demokratischen Verfassungen gilt jene der Vereinigten Staaten von Amerika. 1787 wurde sie verabschiedet. Heute verfügen fast alle Länder über ein geschlossenes Verfassungsdokument. Zu den wenigen Staaten, die weder eine formale Verfassung noch ein Grundgesetz haben, gehört Israel. Auch Deutschland hat keine Verfassung. „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt“, heißt es in Artikel 146. Die solle vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden sein.

Pat Christ

 

 

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