Früher hatte es das Team des Würzburger Vereins „Halma – Hilfe für altersverwirrte Menschen im Alltag“ in der Regel mit der netten, älteren Dame mit sich entwickelnder Demenz zu tun. Meist wurde sie von der Tochter unterstützt. Damit die sich hin und wieder aus der Pflege ausklinken konnte, erhielt sie eine Alltagshelferin. Inzwischen hat es das Team mit Senioren zu tun, die gravierend demenziell verändert sowie mehrfach erkrankt sind. Die Nachfrage nach Beratung und Hilfe ist aktuell hoch.
Rund 270.000 Menschen leben in Bayern mit Demenz. Dies teilt das Bayerische Gesundheitsministerium auf unsere Anfrage hin mit. Die Dunkelziffer sei hoch. Sofern kein medizinischer Durchbruch erzielt wird, werden die Zahlen nach Einschätzung des Ministeriums weiter steigen – und zwar auf voraussichtlich 300.000 bis 2030.
Wie diese hohe Zahl bewältigt werden soll, bleibt eine ungelöste Frage. „Halma“ in Würzburg zum Beispiel hat jetzt schon alle Hände voll zu tun. „Wir zählen nicht, wie oft das Telefon bei uns am Tag klingelt“, sagt Sabine Seipp, die sich bei „Halma“ seit über 30 Jahren um Menschen mit Demenz kümmert. Ihr und ihren hauptamtlichen Kolleginnen stehen aktuell 70 Frauen und Männern als Alltagshelfer zur Seite. Sie entlasten 80 Familien mit betagten Angehörigen, die an Demenz oder einer psychischen Erkrankung leiden.
Den Beraterinnen von „Halma“ werden am Telefon oft drastische Schicksale geschildert. So gibt es Angehörige, die sich um einen Vater oder eine Mutter kümmern, die schwer an Demenz erkrankt sind und eine vorangeschrittene Multiple Sklerose haben. Warum die Nachfrage derart hoch ist, warum so viele Betroffene mehrere schwerwiegende Diagnosen haben und warum „Halma“ inzwischen öfter mit rapideren Demenzverläufen konfrontiert ist, kann Sabine Seipp nicht sagen.
Früher diagnostiziert
Wissenschaftler führen gewöhnlich den demographischen Wandel ins Feld. Außerdem heißt es, dass heute früher diagnostiziert wird. „Halma“, sagt Sabine Seipp, „ist heute natürlich auch bekannter als vor 30 Jahren.“ Die Organisation wird also früher gefunden und kontaktiert.
Die hohe Nachfrage resultiert nach ihrer Vermutung außerdem daher, dass Pflegedienste eine geringere Kapazität haben. Auch veränderte Familiensituationen spielten in die aktuelle Entwicklung mit hinein: Kinder wohnen nicht mehr dort, wo die Eltern leben. Auch dadurch steige die Nachfrage nach Unterstützung.
Welchen Einfluss die Corona-Krise hat, ist für Sabine Seipp schwer zu beantworten. Klar sei: Menschen sind soziale Wesen. „Ist jemand ganz auf sich alleine gestellt, verkümmert die Seele“, so die Fachberaterin. Die in der Corona-Krise verordnete Isolation könnte durchaus ein Faktor für aktuelle Phänomene im Bereich Demenz sein. Doch Belege gebe es nicht.
Verzweifelte Töchter
Laut Sabine Seipp müsste die Versorgungssituation dringend verbessert werden: „Gestern erst erhielt ich zwei Anrufe verzweifelter Töchter, beide suchen dringend Kurzzeitpflegeplätze für Eltern, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden.“ Von der Politik wünscht sich Sabine Seipp endlich konkrete Maßnahmen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. So könnte die tägliche Arbeitszeit in der Pflege auf sechs Stunden beschränkt werden. Die Bezahlung müsste jedoch so hoch sein, dass man dennoch gut von seinem Beruf leben kann.
GZ-Umfrage
Das Thema „Demenz“ treibt auch Bürgermeister, Gemeinderatsmitglieder, sowie Mitarbeiter in der Verwaltung um, ergab eine Umfrage der Bayerischen GemeindeZeitung. Ein Fazit aus 79 eingegangenen Antworten lautet: Es besteht in puncto Demenz in vielen Gemeinden ein hoher Bedarf an Unterstützung und Aufklärung. Andererseits gibt es auch bemerkenswerte Angebote und Aktivitäten.
Dazu zählt das Engagement von Michael Brehm, Wirtschaftsförderer im Landratsamt Haßberge. „Ich versuche, ‚meinen‘ Betrieben klarzumachen, dass ein ‚familienfreundlicher Arbeitgeber‘ erst dann richtig familienfreundlich ist, wenn er nicht nur Mütter und Väter im Blick hat“, berichtet er. Die „Sandwich-Generation“, die sich um die eigenen Kinder, die eigenen Eltern und zum Teil auch noch um Großeltern kümmert, müsse unbedingt in den Blick genommen werden.
Beruf und Pflege
Die Pflege von Angehörigen mit Demenz ist laut Michael Brehm oft schwer mit dem Beruf unter einen Hut zu bekommen. „Das führt dazu, die Arbeitszeit zu verkürzen, etwa von ganztags auf halbtags, bis dahin, dass der Job komplett aufgegeben wird“, legt er dar. Auch damit gingen Fachkräfte verloren.
In vielen Kommunen, zeigt unsere Umfrage, wird jedoch inzwischen einiges getan, um Familien zu unterstützen. Es gibt Gruppen für pflegende Angehörige sowie Demenzgruppen, mancherorts wird stundenweise häusliche Betreuung angeboten. Fallzahlen von Menschen mit Demenz werden in Gemeinden normalerweise nicht erhoben. Zum Teil wird jedoch beobachtet, dass die Anzahl zunimmt und dass vor allem jüngere Menschen von Demenz betroffen sind.
Der Bayerische Bezirketag beobachtet einen wachsenden „Belegungsdruck“ in den gerontopsychiatrischen Abteilungen der bezirklichen Kliniken. „Dies ist aus unserer Sicht vorrangig dem demographischen Wandel geschuldet“, so Pressesprecherin Katharina Hering. Allein deshalb erwarteten Bezirkskliniken in den nächsten Jahren einen weiteren Anstieg.
„Pikasso“ in Augsburg
Alle Bezirke versuchen laut Katharina Hering, sich an die geänderten Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaft anzupassen. So hätten sämtliche Bezirkskliniken spezielle Angebote wie etwa Gedächtnissprechstunden. Zu den besonders vorbildlichen Bezirksprojekten für Menschen mit Demenz gehört der Augsburger Tagestreff „Pikasso“ des Bezirks Schwaben. Der richtet sich an Menschen ab dem 50. Lebensjahr, die eine Depression, Demenz oder eine andere psychische Erkrankung haben oder bei denen kognitive Defizite vorliegen. Das kostenlose Angebot umfasst etwa Kreativtherapie, Kognitives Training oder Depressionsbewältigung.
„Ein besonderes Angebot ist auch die ‚Blaue Blume Schwaben‘ in Kaufbeuren“, so Hering. Die vom Bezirk Schwaben finanzierte Aktions- und Begegnungsstätte unterstützt ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen. Im Gebäude der „Blauen Blume“ finden außerdem Sprechstunden der gerontopsychiatrischen Institutsambulanz des BKH Kaufbeuren statt.
„Demenz“, erklärt das Bayerische Gesundheitsministerium, ist nicht gleich „Demenz“. Unter diesen Oberbegriff fielen Funktionsstörungen des Gehirns, durch die allmählich Denken, Orientierung und Lernfähigkeit verloren gingen. Am häufigsten trete die Alzheimer-Demenz auf. Bei einer vaskulären Demenz, der zweithäufigsten Form, verlangsamten sich die Denkprozesse. Erkenntnisse über die Häufigkeit von gravierenderen oder schnelleren Verläufen im Zusammenhang mit der Corona-Krise liegen dem Ministerium nicht vor.
Risikofaktor Einsamkeit
Eine Sprecherin verweist jedoch auf einen Bericht der Lancet-Expertenkommission. Demnach gibt es 14 Risikofaktoren, die mit einer Demenzentwicklung im Zusammenhang stehen. „Dazu gehören mangelnde soziale Aktivität und Einsamkeit“, so das Gesundheitsministerium.
In Oberfranken kümmert sich Ute Hopperdietzel um Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Die Sozialpädagogin ist Senioren- und Behindertenbeauftragten der Gemeinde Regnitzlosau im oberfränkischen Landkreis Hof und leitet die Fachstelle für Demenz und Pflege Oberfranken. Außerdem ist sie ehrenamtliche Vorsitzender der Alzheimer-Gesellschaft Hof/Wunsiedel. Die Nachfrage nach Angeboten für Angehörige von Menschen mit Demenz sowie die Nachfrage nach Beratung ist ihr zufolge auch in Oberfranken hoch.
Abzulesen sei dies zum Beispiel am Online-Angebot „Partnerschulung“: „Letztes Jahr hatten wir 180 Anmeldungen.“ Vor kurzem fand ein Online-Vortrag zur Diagnostik erster Demenz-Anzeichen statt. „Wieder war der Zulauf enorm“, so Ute Hopperdietzel.
Jung und dement
Besonders schwierig ist die Versorgungssituation, wenn Menschen unter 65 Jahren von einer Demenz betroffen sind. Davon berichtet die Psychologin Sarah Straub aus Gundelfingen im Landkreis Dillingen. Sarah Straub arbeitet an der Uniklinik Ulm in einer Spezialsprechstunde. Die 38-Jährige kümmert sich dort um jüngere Menschen mit Demenz.
Schon vor Jahren verschrieb sich Straub der Demenzaufklärung. „Ich möchte vermitteln, dass ein gutes Leben auch mit Demenz möglich ist“, sagt die junge Frau, die nicht nur Demenzexpertin, sondern auch Liedermacherin und Autorin ist. In jedem ihrer Konzerte kommt sie auf das Thema „Demenz“ zu sprechen. Aktuell arbeitet sie an einem Buch, das von inspirierenden Begegnungen mit betroffenen Familien erzählt. „Es geht um Familien, die bestimmte Dinge im Zusammenhang mit Demenz richtig gut machen“, verrät sie.
Besonders wichtig dürfte ihr Buch für Familien sein, in denen jemand sehr jung an Demenz erkrankt ist. Sarah Straub kennt Menschen, die sich bereits mit Mitte 40 demenziell zu verändern begannen. Besonders drastisch sei dieses Schicksal, weil die Demenz hier in vielen Fällen mit massiven Verhaltensveränderungen einhergeht: Die Betroffenen können aggressiv oder anderweitig verhaltensauffällig werden. Sie bräuchten ein Setting, wo sie zur Ruhe kommen können. Aber das gebe es selten.
Zu agil
Tagespflegeeinrichtungen lehnen es Sarah Straub zufolge oft ab, junge Patienten mit Demenz aufzunehmen. „Für die Gruppen sind die Betreffenden oft zu agil“, sagt sie. Auch in Pflegeheimen kämen junge Menschen mit Demenz kaum unter.
Rund 100.000 Männer und Frauen sind von früher Demenz betroffen. Wobei es wahrscheinlich eine erhebliche Dunkelziffer gibt, sagt Sarah Straub. Dass die Zahl wächst, liegt nach ihren Erkenntnissen daran, dass heutzutage eher als in früheren Zeiten daran gedacht wird, dass auch junge Menschen von Demenz betroffen sein können: „Früher sind diese Patienten in der Psychiatrie gelandet und geblieben.“
In der Ulmer Spezialsprechstunde werden acht Betroffene pro Woche beraten. Insgesamt 250 Menschen werden langfristig begleitet. Die Patienten kommen aus ganz Deutschland. Die Probleme sind überall ähnlich. Weil junge Patienten mit Demenz kaum irgendwo aufgenommen werden, müssen sie von der Familie betreut werden. Der Partner muss arbeiten gehen, nachdem ja ein Gehalt wegfällt. Nicht selten kommt es zu finanziellen Problemen. Die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen, und die Pflege neben dem Beruf führen zu starker seelischer und körperliche Belastung.
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