Der ehemalige Journalist Matthias Horx hat 1998 das Zukunftsinstitut gegründet. Heute gilt er als einflussreichster Trendforscher des deutschsprachigen Raums. Am 25. Oktober 2019 moderiert Horx im Maternushaus in Köln den Kongress zur Zukunft von Friedhöfen „Heilsame Abschiede“. Im folgenden Interview spricht.
Können Sie in der gegenwärtigen Gesellschaft Versäumnisse im Umgang mit dem Gefühl der Trauer beobachten?
Horx: „Versäumnisse“ würden ja auf eine mehr oder minder bewussten Akt von Nicht-Handeln hinweisen, auf eine Instanz, die uns etwas vorenthalten will. So ist das aber nicht. Wir sind alle Teil eines Wandlungsprozesses: Die alten Rituale und Formgebungen der Trauer, wie sie in der traditionellen Gesellschaft an Religion gebunden waren, verblassen. Wir leben in einer individualistischen Kultur, in der wir gerne Gefühle von Verlust verdrängen. Trauer „stört“ unsere Selbstempfindung als autonome Menschen. Es ist ein Umbauprozess der Kultur, der sich nur gemeinsam bewältigen lässt: Der Trauer Raum geben, die sie im menschlichen Leben braucht.
Welche Rolle spielen Raum, Zeit und Ort bei der Bewältigung von Trauer?
Horx: Zunächst einmal ist Trauer ein Akt der Beziehung, die wir zu einem geliebten oder sehr geschätzten Menschen haben. In der Trauer findet eine Heilung statt, die aus der Verwundung stammt, die wir durch den Verlust erlitten haben. Wir tasten sozusagen die Wunde ab, die der Weggang des anderen bei uns hinterlässt. Wenn wir trauern, fallen wir in gewisser Weise aus den normalen sozialen Konventionen heraus, das wirkt manchmal regelrecht „egoistisch“, weil man sehr stark mit seiner Innenwelt beschäftigt ist.
Dabei spielt erstens Zeit eine Rolle, weil wir, je tiefer wir mit einem Menschen verbunden sind, ihn länger vermissen werden. Womöglich lebenslang. Der Raum, in dem wir uns dabei bewegen, ist der soziale Raum. Der Ort schließlich bildet einen Anker, an dem sich Konzentration bilden kann. Trauern findet deshalb oft ortsbezogen statt, weil wir einen physischen Halt, eine Orientierung suchen. Einen Rahmen. Das war lange Zeit der Friedhof, der mit seiner Weite, seiner Stille, seiner Sakralität eine Umwelt für die Trauer schuf.
Warum ist Menschen im Rahmen eines Trauerprozesses die Nähe zu ihren verstorbenen Angehörigen oder Freunden wichtig?
Horx: Weil diese Nähe dem natürlichen Empfinden eines Menschen entspricht. Wir sind räumliche Wesen, die sich in der Welt physisch verorten, Deshalb wollen Angehörige oft an den Ort eines Unglücks zurückkehren, an dem ein geliebter Mensch ums Leben kam. Der Ort ist sozusagen in unser inneres Karten-System eingeschrieben. Er ist ein Markierpunkt, eine symbolische Ankerung. Allerdings ist das kulturell und individuell unterschiedlich geformt, wie ja überhaupt das Verhältnis der Menschen zum Tod und den Toten.
In anderen oder früheren Kulturen war der Kontakt zu den Verstorbenen noch viel enger und dauerhafter. Die Ahnen lebten weiter mit im Haus. Sie gingen mit auf Reisen. Menschen sprachen sogar mit ihnen oder holten sich Ratschläge. Frühere Menschen waren mehr in die Abfolge der Generationen eingefügt. In der Individualgesellschaft möchte man sich der Toten, des Sterblichen, schnell entledigen, daher auch der starke Trend zur Feuerbestattung. Es gibt allerdings heute wieder ein Bedürfnis, sich wieder als Teil eines größeren Ganzen begreifen zu können, sozusagen einer überzeitlichen Realität.
Warum haben bestehende Friedhöfe und die dort angebotenen Grabformen in weiten Teilen der Gesellschaft heute kaum noch eine Akzeptanz?
Horx: Der Friedhof ist ein Ort, der stark an Frömmigkeit, an konservative oder gar überkommene Formen der Trauer gebunden war. Wen sah man auf dem Friedhof? Eher alte Menschen, bei denen man das Gefühl hatte, sie sind eher einsam. Es gab und gibt dort wenig Licht, wenig Hoffnung, wenig Freude. Es gab auch meistens wenig Gemeinschaft. Die Farbe, die die meisten Menschen mit Friedhöfen assoziieren, war und ist vielfach immer noch grau, obwohl es sich doch oft um sehr schöne Parklandschaften handelt. Das traditionelle Grab hat meistens etwas Düsteres, Abschliessendes, Schweres. Oder man steht einsam auf einer Wiese und kann sich nicht orientieren.
Trotz Verbote machen Menschen Beisetzungsorte häufig kenntlich. Handlungen oder Adressierungen an Beisetzungsorten, an denen dies ausdrücklich untersagt ist, sind auf fast allen Friedhöfen zu beobachten. Ist das Angebot anonymer oder halbanonymer Beisetzungsorte für einen gelungenen Trauerprozess ungeeignet?
Horx: Allerdings. Menschen brauchen Narrative, symbolische Repräsentationen, um mit „ihren“ Toten kommunizieren zu können. Also eine Nicht-Anonymität. Wenn wir vor einer Wiese stehen, auf der unser geliebter Mann, Freund, „irgendwo“ ist, dann werden wir sehr verwirrt. Deshalb suchen die Menschen eine konkrete Symbolik der Gabe. Man möchte mit dem Verstorbenen „kommunizieren“, nicht mit einer anonymen Wiese.
Wie müssen Beisetzungsorte aussehen, die den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen entsprechen?
Horx: Das können wir heute noch nicht genau sagen, es muss sich erst aus einer neuen Trauerkultur heraus entwickeln. Grundsätzlich geht es um eine Veränderung von der alten religiösen Sakralität zur Spiritualität, die das Trauern individueller, aber auch sozialer macht. Trauernden Menschen werden sich in Zukunft Symbole und Formen dafür selbst aussuchen und entwickeln.
Das Streben der Menschen nach Individualität steht heute bei vielen Menschen im Mittelpunkt ihres Handelns. Wer sollte entscheiden, wo und wie Menschen „ihre letzte Ruhe“ finden dürfen?
Horx: Natürlich der Lebende. Die meisten Menschen machen sich ja durchaus Gedanken darüber, „wo sie sein wollen“ nach dem Tod. Allerdings scheitert es dann oft an einer Verwirrung der Möglichkeiten. Alles ist so normiert, dass viele Menschen den Mut verlieren, sich damit auseinanderzusetzen. Oft sind es auch falsche Rationalisierungs-Vorstellungen, die die Auseinandersetzung mit der Ruhestätte verhindern: „Ich möchte verschwinden und Euch nicht zur Last fallen!“, sagen viele ältere Menschen. „Es kommt ja sowieso niemand an mein Grab!“, heißt es oft.
Darin liegt natürlich auch eine fatale Art der Selbstabwertung. Menschen nehmen den Hinterbliebenen die Möglichkeit der ortsbezogenen Trauer. Sie verweigern sozusagen den Besuch. Das ist falsch. Ich selbst gehe heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod meiner Großeltern, immer noch an deren Grab. Ich brauche das auch für mich selbst.
Für immer mehr Menschen haben Aktivitäten in der virtuellen Welt eine hohe Bedeutung. Können Sie eine parallele „Trauerwelt“ in dieser digitalen Welt erkennen?
Horx: Trauern ist eine Erfahrung, die Menschen nicht simulieren oder virtualisieren können. Menschen können einen Verstorbenen auf einer Website würdigen, können ein Abbild dieses Menschen eine Weile aufrecht erhalten. Aber dabei entsteht eine neue Schwierigkeit: Sie verweigern gewissermassen das Trauern, weil sie sich in der Illusion bewegt, der andere wäre noch „da“. Er hat sozusagen eine Repräsentanz im Internet. Das hat etwas Untotes, Gruseliges.
Es gab sogar Versuche, Avatare aus Verstorbenen zu formen, mit denen man sprechen kann. So will es auch der „Zukunfts-Guru“ Ray Kurzweil. Er möchte eine Künstliche Intelligenz konstruieren, die wie sein verstorbener Vater ist. Aber eigentlich ist das eine ganz gruselige Vorstellung, die einem nie den Abschied vollziehen lässt, der ja zum Leben nötig ist. Dazu dient ja die Trauer. Trauer ist ein Loslassen, kein Festhalten. Viele Start-ups, die versucht haben, das Trauern zu digitalisieren, sind, glaube ich, an solchen Paradoxien gescheitert.
Was suchen Menschen in dieser Parallelwelt?
Horx: Sie suchen Erleichterung. Es soll nicht so weh tun. Aber wenn Trauer nicht wehtut, kann sie nicht heilsam wirken.
Lässt sich dies dadurch mitbegründen, dass viele Menschen in der realen Welt ihre Trauer nicht so leben dürfen, wie es ihnen gut tut, und sie deshalb auf digitale Möglichkeit ausweichen?
Horx: Das kann schon sein, aber das eine bedingt nicht unbedingt das andere. Dahinter steht oft einfach Ratlosigkeit. Wir kennen das ja alle bei uns selbst: Wenn wir emotional nicht weiterkommen, schalten wir einen Bildschirm an, und versuchen irgendeine Art der symbolischen Beruhigung. Das Internet hat eine hohe Verführungs- und Ablenkungskompetenz, aber es führt eben auch oft in die seelische Irre, wie wir an den sogenannten „Sozialen Medien“ sehen können.
Kann ein Beisetzungsort auf dem örtlichen Friedhofs beide Welten verknüpfen?
Horx: Das wird ja des Öfteren versucht, etwa eine Web-Adresse oder einen Link auf einem Grabstein, wo man dann mehr über den Menschen erfahren kann. Das mag bei manchen Prominenten funktionieren. Trauern ist immer ein sehr persönlicher, intimer Akt, ein Zwiegespräch, und da stören solche elektronischen Funktionen oder Spielereien eher.
Welche Rolle spielt der Friedhof dabei als Trauerort?
Horx: Immer mehr Menschen suchen sich eigene Orte, an denen sie mit ihren Verstorbenen in Verbindung treten können; an gemeinsam erlebten Orten in der Ferne oder zu Hause an einem Hausaltar. Dieser Trend wird weitergehen, vor allem dann, wenn diese Menschen auf Friedhöfen nicht das finden, was sie suchen, wenn die dort angebotenen Orte für sie nicht funktionieren.
Wie kann es gelingen, den Friedhof als attraktiven Trauerort wieder im Zentrum der Gesellschaft zu etablieren?
Horx: Es kann eine Renaissance der Friedhöfe geben. Doch dafür brauchen wir ein neues Bewusstsein über den Sinn und Zweck des Trauerns als lebendige Begegnung. Eine Art sozialer Bewegung, die sich etwas traut. Ich glaube, dass da schon einiges in Gang ist. Es gibt zurzeit eine ganze Reihe von Menschen, die sich intensiv mit der Entwicklung und der Konzeption von Friedhöfen beschäftigen.
Es gibt Studien und Untersuchungen, die offenlegen, was Menschen dort wirklich brauchen. Es gibt innovative Ideen und an vielen Stellen ist ein „Neu-Denken“ von Friedhöfen zu beobachten. Es gibt Rebellen und Querdenker. Das alles ist notwendig, wenn etwas Neues entstehen soll. Es gibt immer mehr Friedhofsverantwortliche, die sich bemühen, andere „Kultur-Formen“ auf dem Friedhof zu etablieren. Da fügt sich zurzeit etwas zusammen. Aus vielen Einzelteilen und „Best-Practice-Ansätzen“ wird sich der Wandel der Trauerkultur und damit auch des Friedhofs formen.
Welche konkreten Maßnahmen sind dazu notwendig?
Horx: Lassen wir das doch einstweilen offen! Es muss sich aus einer neuen Bewegung entwickeln, die das Trauern zurück in die Lebenswelt der Menschen bringt. Die Zukunft entsteht nicht aus Planung, sondern immer aus Synergien, die zu Wirklichkeiten werden.
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