Obwohl der Bezirk Niederbayern in den vergangenen zehn Jahren die stationären Angebote in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stark ausgebaut und ambulante Behandlungsplätze neu eingeführt hat, übersteigt der Bedarf nach wie vor die Kapazitäten. „Die Nachfrage steigt stetig an und wir müssen uns dringend die Frage stellen, wie wir diesem Trend entgegensteuern können“, begründete Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich seine Initiative zu dieser Veranstaltung.
Körperliche Folgen des Medienkonsums
„Ich bin gerne gekommen, weil Sie alle wichtige Multiplikatoren sind“, so Manfred Spitzer zu Beginn, bevor er über den aktuellen Stand der Wissenschaft referierte. Zehn Stunden Nutzung digitaler Medien pro Tag seien der Normalfall, bei Kindern sind es am Wochenende sogar noch mehr. „Das muss Folgen haben.“ Zunächst zeigte er die körperlichen Folgen auf, die von Kurzsichtigkeit über Schlafstörungen bis hin zur Fettleibigkeit reichen. Bis zum Alter von 25 Jahren wächst das Auge, danach nicht mehr. „Die Kinderaugen verändern sich durch den Konsum. Die Augäpfel verbiegen sich, wenn sie ständig in die Kürze schauen – das geht nicht mehr weg und ist die Haupt-
ursache von Erblindung“, so der Experte. Studien prognostizieren, dass 2050 etwa die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein und damit auch die Zahl der erblindeten Menschen erheblich ansteigen wird.
Und seelische Schäden
Neben den körperlichen Schäden seien vor allem aber die seelischen Schäden dramatisch. Zu viel Handykonsum wirke auf das Gehirn wie eine Sucht, die Glücksempfinden und Lernen hemme. Wenn man mehr als drei Stunden pro Tag soziale Medien nutzt, erkranke man später mit doppelter Wahrscheinlichkeit an einer Depression. Studien aus den USA, nach denen sich die Suizidrate unter Jugendlichen innerhalb von zehn Jahren verdoppelt hat, zeigen die drastischen Auswirkungen. Neben Angst und Depression verhindere zu starker Medienkonsum, dass Kinder Empathie entwickeln. „Um das zu lernen, braucht es echte Menschen“, so der ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm.
iPads in Kindergärten: „Das ist Körperverletzung“
Die Digitalisierung in der Bildung sei in Deutschland in aller Munde – die Kommission, die die Kulturministerkonferenz berät, empfiehlt aktuell die Einführung von iPads in Kindergärten. „Das ist Körperverletzung mit Ansage“, so der Experte. Anhand einer Grafik im Rahmen der PISA-Studie, die schulischen Leistungen von 15-Jährigen in aller Welt untersucht, wurde klar: Je mehr ein Land in die Digitalisierung seiner Bildung investiert, desto schlechter werden die Leistungen der Schüler.
Nach einem kurzen „Crashkurs“ über die Entwicklungsprozesse im Gehirn, das nur dann wächst, wenn es benutzt wird – dafür aber „nie voll“ ist und durch Milliarden von Synapsen, die sich täglich verändern, ins Unendliche wachsen kann, nahm er sich das Bildungssystem vor. Am meisten lernen Kinder im Kindergarten und in der Grundschule, danach fällt die Kurve ab. „Eigentlich müsste die Politik dort das meiste Geld investieren. Doch warum wird das nicht gemacht? Weil diese Zielgruppe nicht wählen kann“, so der Professor, der auch das geringere Gehalt von Erziehern und Grundschullehrern kritisierte. „Alles, was man bis 25 Jahren nicht gelernt hat, hindert einem daran, weiterzulernen.“ Alle Studien zeigen den klaren Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und der geistigen Leistung. „Alleine wenn das Handy auf dem Tisch liegt, senkt im Gegensatz zum Handy im Nebenraum den IQ um 7 Prozent, das entspricht dem durchschnittlichen IQ-Unterschied zwischen Gymnasiasten und Realschülern.“ Interessant dabei: Die Leistungen von schwächeren Schülern leiden am meisten unter digitalen Medien.
Lernen als Demenzprophylaxe
Das Lernen sei nicht nur wichtig für die Berufswahl und den mittelfristigen Lebensweg junger Menschen, sondern auch langfristig für ihr Alter. „Wenn eine Demenz mit 70 Jahren einsetzt und Sie bauen geistig ab, dann dauert es eben länger, wenn Sie mehr im Kopf haben“, so Spitzer anschaulich, der diesen Prozess wie den Abstieg von einem Berg betrachtet. „Je höher sie oben sind, desto länger dauert der Weg nach unten.“ Schule sei also Demenzprophylaxe.
Nach dem Vortrag berichteten in einer Gesprächsrunde Veronika Auer, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin an der psychiatrischen Institutsambulanz in Zwiesel, sowie Dr. Roland Ebner, Leiter der Institutsambulanz und der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Deggendorf, von ihren Erfahrungen aus der Praxis, die die Aussagen von Prof. Spitzer bestätigten.
„Wir wissen gar nicht, was da alles abgeht“
„Wir Erwachsenen wissen gar nicht, was da alles abgeht“, so Ebner, der von Fällen berichtete, in denen junge Mädchen Nacktfotos von sich posten oder von Suiziden oder Suizidversuchen, weil man dem Vergleich in sozialen Medien nicht standhalten kann. „Ich habe den Eindruck, dass viele Eltern von den Problemen wissen, aber sich am Ende die Bequemlichkeit durchsetzt“, berichtete Auer von ihrem Alltag.
„Vor 100 Jahren haben die Leute ihre Kinder mit Baumwolltüchern ruhiggestellt, die sie vorher mit Alkohol und Opium getränkt haben, weil sie es nicht besser wussten. Womöglich sagen die Leute in 50 Jahren auch über uns, ob wir wahnsinnig waren, weil wir so leichtfertig unsere Kinder mit Smartphones ruhiggestellt haben“, kommentierte Spitzer. Das Argument, dass „alle anderen auch eins haben“, sei kein Grund. „Wir haben alle Verantwortung für unsere Kinder – wenn es die Politik schon nicht vorgibt, dann müssen sich Lehrer und Eltern zusammenschließen und gemeinsam das Handy zumindest aus der Schule verbannen. „Es macht süchtig und beeinflusst die Gehirnentwicklung – im Grunde müsste man es wie Alkohol und Zigaretten bis 14 Jahre verbieten.“ Dafür und für seinen fesselnden Vortrag bekam Manfred Spitzer viel Applaus von den Gästen, die im Anschluss noch lange diskutierten und sich austauschten.Und womöglich erfüllt sich damit auch das Ziel der Veranstaltung, dass „die ein oder andere Weiche nun anders gestellt wird“, wie es Olaf Heinrich in seinem Schlusswort formulierte.
ml
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