Vor allem Kleinkinder, die während der Corona-Krise nicht mit dem Respiratorischen Synzytial Virus (RSV) in Kontakt kamen, seien einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt, warnte Ende des vergangenen Jahres die WHO.
2022 waren tatsächlich viele bayerische Kinderintensivstationen wegen RSV überlastet. „Wir steuern ungebremst auf die nächste Katastrophe zu“, warnte Florian Hoffmann, Kinderintensivmediziner in München und Präsident der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).
Mit einer neuerlichen „RSV- Welle“ im Winterhalbjahr rechnet auch Thomas Völkl, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Josefinum in Augsburg. Der RSV-Erreger, warnt das Landratsamt München, sei alles andere als harmlos.
„Ein besonderes Risiko für schwere oder gar tödliche Verläufe der Infektion besteht bei Vorliegen von Risikofaktoren, etwa bei Frühgeborenen“, so Christina Walzner, stellvertretende Pressesprecherin im Landratsamt für den Landkreis München.* Noch gefährlicher sei RSV für Kinder mit bronchopulmonaler Dysplasie oder angeborenem Herzfehler.
Ob eine Impfung ggf. zusätzliches Gefährdungspotenzial birgt, oder schützt, darüber gehen die wissenschaftlichen Meinungen auseinander. Mediziner die kritisch auf das politische Handling der Corona-Krise zurückblicken, kommt das, was aktuell in Sachen RSV geschieht, nicht ganz geheuer vor. Warum zum Beispiel, fragen sie sich, wurde kürzlich in Windeseile eine RSV-Meldepflicht von Bundestag und Bundesrat beschlossen?
„Ich kann den Sinn nicht verstehen“, sagt Mohammad Ahmadi, unterfränkischer Bezirksvorsitzender im Bayerischen Hausärzteverband. Als Folge der Meldepflicht könnten eventuell wieder „Maßnahmen zur Eingrenzung“ ergriffen werden, etwa Kindergarten- oder Schulschließungen, sagt er: „Über eine Impfpflicht als Folge lässt sich sicher spekulieren.“
Zehn-Milliarden-Dollar-Markt
Während der Corona-Krise sind Big Pharma-Player fabelhaft reich geworden. Nun wird RSV-Impfstoffen laut „Wallstreet online“ ein „Zehn-Milliarden-Dollar-Markt“ versprochen. Im Mai ließ die amerikanische Food and Drug Administration den Impfstoff Arexvy von GlaxoSmithKline zu. Im Rahmen des beschleunigten Bewertungsverfahrens wurde Arexvy im Juni ebenfalls von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen. Die positive EMA-Stellungnahme stützte sich auf Daten einer Studie an 25.000 Erwachsenen, die einen Schutz von 83 Prozent für mindestens sechs Monate versprach. Seit August ist der Impfstoff auf dem Markt.
Während bei Corona auch noch im letzten Erdenwinkel jeder Mensch geimpft werden sollte, sind bei RSV nun ausschließlich Senioren und Schwangere im Visier. Die „Initiative freie Impf-
entscheidung“, der die gebürtige Münchnerin Angelika Müller vorsitzt, ist dennoch besorgt. Irritierend ist für die Organisation nicht zuletzt die Begründung der RSV-Meldepflicht. Der zuständige Bundestagsausschuss habe nicht mit einer Zunahme an Infektionen, sondern mit der Zulassung von Impfstoffen argumentiert, heißt es.
Im Laufe der Corona-Krise wurde deutlich, dass die in- und ausländische Presse mehrheitlich bestimmte Sachverhalte unkorrekt und verkürzt darstellte. Auf andere Fakten wurde sogar einhellig verzichtet. Auch dieses Mal wurde kaum ein „Mainstream-Leser“ über die Begründung der RSV-Meldepflicht korrekt informiert. Wörtlich heißt es im Bericht des Ausschusses: „RSV gewinnt als der häufigste Atemwegserreger bei Kleinkindern und wegen des Fortschritts in der Impfstoff- und Prophylaxe-Entwicklung zunehmend an Bedeutung.“ Die Meldedaten wiederum wären laut Ärzte-Zeitung „für die Beurteilung der Impfstoffe und die Ausrichtung von Impfstrategien hilfreich“.
Beschleunigte Verfahren
Die Pharmabranche hat ihre dynamische Entwicklung in den letzten Jahren vor allem politischen Entscheidungen zu verdanken. Ohne das grüne Licht von Behörden hätte es nicht zu derart gigantischen Umsätzen kommen können. Nachdem Arexvy im Juni zugelassen wurde, wurde auch Abrysvo von Pfizer vom EMA-Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) nach einem beschleunigten Verfahren am 20. Juli positiv bewertet. Abrysvo ist der erste RSV-Impfstoff, der sowohl bei Menschen ab 60 Jahren als auch, über Schwangere als „Umweg“ bei Säuglingen eingesetzt werden soll. Die EU-Kommission gab am 25. August ihr Okay.
Die Neuentwicklung von Medikamenten und Impfstoffen ist fraglos wichtig, allerdings gilt es, genau auf Risikosignale zu achten. Solche Signale könnte es bei Abrysvo geben. Dies geht aus einer Aussage von Roland Elling, pädiatrischer Infektiologe aus Freiburg, gegenüber dem Science Media Center (SMC) hervor. Er wisse von einer Studie zur maternalen RSV-Impfung mit einem vergleichbaren Impfstoff wie Abrysvo, die unterbrochen wurde, weil es Hinweise auf ein erhöhtes Frühgeburts-Risiko gab, sagte er damals. Die Deutsche Apotheker-Zeitung berichtet darüber im Juli. Dass neue Arzneien fatale Nebenwirkungen haben können, ist an sich nicht ungewöhnlich.
Dunkle Punkte
Ein dunkler Punkt in der Geschichte von Pfizer ist zum Beispiel der Skandal um den entzündungshemmenden Arzneistoff Valdecoxib. 2005 wurde das Mittel in den USA, der EU und der Schweiz vom Markt genommen, nachdem ein erhöhtes Risikokardiovaskulärer Komplikationen nach Bypass-Operationen festgestellt wurde. Außerdem traten lebensbedrohliche Hautreaktionen auf. 2009 überprüfte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen das Antidepressivum Reboxetin von Pfizer. Dem Deutschlandfunk gegenüber erklärte Arzneiprüferin Beate Wieseler im Juni 2012, dass beim Blick auf alle Daten kein Nutzen nachweisbar gewesen wäre.
Was „Arexvy Pulver und Suspension zur Herstellung einer Injektionssuspension“ anbelangt, erklärt GlaxoSmithKline, dass „keine besonderen Gefahren für den Menschen“ erkennbar seien. Dies hätten präklinische Daten basierend auf den konventionellen Studien zur Toxizität ergeben. Um die Sicherheit zu überprüfen seien Reproduktions- und Entwicklungsstudien vorgenommen worden, außerdem sei Arexvy an Kaninchen getestet worden.
Impfstoffbedingten Auswirkungen auf die weibliche Hasen-Fertilität, die Trächtigkeit, die embryofetale Entwicklung oder die Entwicklung der Nachkommen der äußerst reproduktionsfreudigen Kleintiere seien nicht zu erkennen gewesen, hieß es im Juni.
Kinderärzte in Sorge
Möglicherweise wurde in die RSV-Meldepflicht zu viel hineininterpretiert. Oder könnte es doch sein, dass neuerlich eine Impfpflicht angestrebt wird? Die „Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung“ (ÄFI) sind nach wie vor in Sorge. ÄFI-Vorstandssprecher Alexander Konietzky, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin aus Hamburg, befürchtet eine möglichweise einrichtungsbezogene Verpflichtung zur RSV-Impfung. Man könnte sie „schnell und unauffällig in das vorhandene Infektionsschutzgesetz“ eingliedern: „Etwa über ein Omnibusgesetz, wie jetzt bei der Meldepflicht.“
Andere Kollegen von ihm sind froh, dass endlich neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Der Ende August abgelaufenen S2k-Leitlinie „Prophylaxe von schweren Erkrankungen durch Respiratory Syncytial Virus (RSV) bei Risikokindern“ zufolge wünschen manche Ärzte eine Prävention von RSV-Erkrankungen durch eine aktive Immunisierung. 2017 wurden laut Leitlinie 14 aktive Impfstoffe gegen RSV untersucht. Nun liegt mit Abrysvo ein bivalenter Subunit-Impfstoff vor. Durch die Impfung werden angeblich neutralisierende Antikörper gebildet. Diese sollen die Plazenta passieren und dem Säugling bis zu sechs Monate Nestschutz bieten. Bisher ist allerdings gerade die Plazenta-Gängigkeit gefährlich.
Zahlreiche Nebenwirkungen
Die einen also sind nun erleichtert über neue Impfstoffe, während sich andere mit Blick auf die zahlreichen Nebenwirkungen der Corona-Impfung Kopfzerbrechen machen. Wird es diesmal wirklich so sein, dass medizinisch nichts Unerwünschtes passiert? Wie auch beim Impfstoff gegen Corona sind die offiziell zitierten Studienergebnisse positiv. In einer Studie wurden laut DAZ 3.695 Schwangere in der 24. bis 36. Schwangerschaftswoche mit Abrysvo geimpft.
3.697 Schwangere erhielten ein Placebo. Der Impfstoff soll bei den anschließend geborenen Kindern 180 Tage lang Erkrankungen der unteren Atemwege verhindert haben. Wie kommt man zu so einer Behauptung?
Bei Corona wurde den Menschen erzählt, sie stünden quasi am Rande des Grabes, sollten sie sich nicht impfen lassen. Heute weiß man: Das war der Panik zuviel. RSV ist ein weit verbreitetes Atemwegsvirus, das normalerweise nur leichte, erkältungsähnliche Symptome verursacht. Die meisten Infizierten erholen sich innerhalb von ein bis zwei Wochen. Dennoch warnte die EU-Kommission im Juni. Europaweit, hieß es in einer Pressemitteilung, verursache RSV alljährlich schätzungsweise 250.000 Klinikaufenthalte und 17.000 stationäre Todesfälle bei Menschen ab 65 Jahren.
Bei Corona konnte sich jeder selbst davon überzeugen, dass die Situation so gespenstisch bedrohlich, wie unermüdlich berichtet wurde, tatsächlich gar nicht war. Nun könnte erneut eine „künstliche Angstkulisse mit schweren Konsequenzen für alle Bereiche unseres Zusammenlebens“ gefördert werden, befürchtet der ehemalige Amtsarzt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg. Die Einführung einer Meldepflicht für saisonale Atemwegsviren wie Influenza, Coronaviren oder RSV hält er für „groben Unsinn.“
Laut Wolfgang Wodarg ist es normal, dass Viren die Menschen in der kalten Jahreszeit in Trab halten. Der Mediziner weist darauf hin, dass es Dutzende respiratorische Viren gibt. Aus einer 2019 veröffentlichten Arbeit der Epidemiologin Sema Nickbakhsh aus Glasgow, die sich über einen Zeitraum von neun Jahren erstreckte, gehe hervor, dass sich bei den meisten grippeartige Infektionen keines der bekannten Viren finden lässt. Untersucht wurden Episoden von Atemwegserkrankungen in Hinsicht auf elf respiratorische Atemwegsviren, für die Tests zur Verfügung standen. Von allen erkannten Atemwegsviren sei RSV nur das vierthäufigste gewesen.
Pat Christ
*In einer früheren Version hieß es, Christina Walzner wäre Pressesprecherin im Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt München. Das stimmt nicht. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
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