Politikzurück

(GZ-17-2021)
gz landespolitik
GZ-Plus-Mitgliedschaft 

► Verfassungsschutzbericht / Erstes Halbjahr 2021:

 

Zunahme des digitalen Extremismus

 

Vor einer wachsenden Spirale extremistischer Eskalation in sozialen Netzwerken hat Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gewarnt. „Wir beobachten eine steigende Enthemmung und Bereitschaft zu Gewalt und Eskalation auf allen Ebenen. Insbesondere auf Online-Plattformen fehlt jegliche soziale Kontrolle, die in der realen Welt als Korrektiv dient“, stellte Herrmann bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts für das erste Halbjahr 2021 gemeinsam mit dem Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz Dr. Burkhard Körner fest. Der Minister machte deutlich, „dass wir diesen Entwicklungen mit den Mitteln eines modernen Verfassungsschutzes entschieden entgegentreten“.

Herrmann zufolge liegt die Keimzelle des sich immer weiter ausbreitenden „digitalen Extremismus“ im Beginn der Lockdown-Maßnahmen, als die Kanäle Rechtsextremer und Verschwörungstheoretiker förmlich explodierten. Das Virus wurde zur Verschwörung verklärt, der Lockdown zur „Corona-Diktatur“.

Grenzenlose Möglichkeiten

Laut Verfassungsschutzbericht sind Extremisten im Gegensatz zum analogen bzw. Offline-Raum in der Lage, über virtuelle Instrumente, Video-Plattformen und Messenger-Dienste regionale (und sprachliche) Grenzen und damit auch pandemiebedingte geografische Beschränkungsmaßnahmen zu überwinden und sich über realweltliche Grenzen hinweg auszutauschen bzw. den eigenen Zuhörerkreis beinahe grenzenlos zu erweitern. Über virtuelle Vernetzungen können grenzüberschreitend oder gar global agierende extremistische Gruppierungen, Kooperationen und Weltbilder in einem Umfang und Tempo entstehen und gestreut werden, wie es in der Realwelt allein aus logistischen Gründen nie möglich wäre.

Exemplarisch angeführt wird der Argwohn neuseeländischer Rechtsextremisten, die um die Abschaffung des zweiten Verfassungsartikels fürchteten, der ihnen vermeintlich das Recht zum Tragen von Waffen zugesteht – obwohl dieser Verfassungsartikel in Neuseeland nie bestand und die Angst lediglich über virtuelle Kanäle aus den USA importiert wurde.

Der Verbreitung extremistischer Ideologien und der Werbung neuer Zuhörer bzw. Anhänger sind im analogen Raum und im realweltlichen Auftreten mehrere Grenzen gesetzt. Im virtuellen Raum hingegen können deutlich mehr und vor allem auch solche Personen erreicht werden, die im analogen Raum aus unterschiedlichen Gründen unerreichbar blieben. „Mittels Algorithmen und geschickter Verschlagwortung (z. B. durch Hashtags) können extremistische Inhalte sowohl sehr breit auf Mainstreamplattformen gestreut als auch im weiteren Verlauf gezielt zielgruppenorientiert und zielgruppengerecht über alternative Social-Media-Plattformen verbreitet werden.

So werden letztlich auch Personengruppen angesprochen, die über analoge Verbreitungswege (z. B. Flyer-Verteilaktionen in Fußgängerzonen) nicht erreicht werden können, sei es, weil der Kontakt physisch nicht möglich ist oder weil seitens der Empfänger größere Hemmschwellen gegen eine ‚persönliche‘ Kontaktaufnahme bestehen“, heißt es weiter.

Echokammereffekt

Innenminister Herrmann konkretisierte die vielfältigen Gefahren, die mit der Reichweitenerhöhung verbunden sind: „Extremistische Ideologien, sicherheitsgefährdende Demokratiefeinde und nicht-extremistische Verschwörungstheoretiker treffen im virtuellen Raum ungebremst aufeinander. Ideen können so leichter ausgetauscht, Anhänger schneller rekrutiert und wichtige gesellschaftliche Diskussionen beeinflusst werden.“ Aufgrund der vermeintlichen Anonymität des Netzes geschehe dies oftmals „unter falscher Flagge“.

Durch den sogenannten Echokammereffekt könne sich eine Radikalisierungsspirale bis hin zur Gewaltbereitschaft in Gang setzen. Sorgen bereitet dem Minister auch das breite Angebot an unterschiedlichen radikalen Botschaften, die zu eigenen Extremismus-Ideen verleiten. „Dieses Mosaik erschwert zunehmend die Grenzziehung zwischen zulässiger Meinungsäußerung und Extremismus.“

Bereitschaft zur gewalttätigen Konfrontation

Nach Herrmanns Worten sind auch die einzelnen Phänomenbereiche stark in Bewegung geraten: „Durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien versuchen Rechtsextremisten nach wie vor, neue Anhänger zu gewinnen.“ Indem juden- und israelfeindliche Stereotype verbreitet werden, versuche die Szene, Personen anzusprechen, die für sonstige rechtsextremistische Inhalte nicht erreichbar seien. Darüber hinaus steige die Bereitschaft zur gewalttätigen Konfrontation mit Linksextremisten.

Mit Blick auf Teile der gewaltorientierten linksextremistischen Szene warnte der Minister vor einem steigenden Radikalisierungspotenzial und der Bildung gewaltbereiter Kleingruppen. „Mit Anschlägen auf politische Gegner, die Immobilien- und Logistikbranchen sowie Infrastruktureinrichtungen verfolgen sie eine regelrechte Einschüchterungsstrategie.“

Herrmann erinnerte dabei an den Anschlag im Frühjahr auf die Münchner Energieversorgung. Aktivisten hatten in einer Baugrube Feuer gelegt, 20.000 Haushalte waren anschließend ohne Strom. Dazu bekannt hatte sich eine Gruppe Linksradikaler.

Brandbeschleuniger Corona

Laut Verfassungsschutzbericht betrachten Linksextremisten die Corona-Pandemie als „Brandbeschleuniger“ in einem ohnehin schon kriselnden kapitalistischen System. Die Pandemie bringe das „kaputtgesparte“ Gesundheitssystem an seine Grenzen. Dabei werde deutlich, dass der Politik mehr an der Rettung der Wirtschaft, als an den Menschen gelegen sei.

„Vor diesem Hintergrund begreift die linksextremistische Szene die aktuelle Situation nicht bloß als Krise, sondern auch als Chance, gegen das System mobil zu machen und einen Systemwechsel herbeizuführen.“

Nach wie vor keine kohärente, einheitliche Ideologie weise dagegen die Szene der Corona-Leugner auf, fuhr Herrmann fort. Auch ihre Anhänger seien offen für Verschwörungstheorien.

„Mit diesen rechtfertigen einzelne Aktivisten beim neuen Sammelbeobachtungsobjekt ‚Sicherheitsgefährdende demokratiefeindliche Bestrebungen‘ ihre Aufrufe zu Blockadeaktionen oder zum Sturm auf staatliche Einrichtungen.“

Seit März 2021 werden auch Teile der Querdenker-Szene vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, Burkhard Körner, machte darauf aufmerksam, dass es in der Szene Esoteriker, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker genauso gebe wie Rechtsextremisten und Reichsbürger.

Islamistischer Terrorismus

Zur Vorsicht rief Joachim Herrmann schließlich auch beim islamistischen Terrorismus auf: „Die Gefahr, insbesondere durch radikalisierte, allein handelnde Täter, ist noch lange nicht gebannt. Wir haben es mit einem modernen islamistischen Terrorismus zu tun, der an jedem beliebigen Ort mit einfach verfügbaren Waffen zuschlagen kann.“

DK

 

Dieser Artikel hat Ihnen weitergeholfen?
Bedenken Sie nur, welche Informationsfülle ein Abo der Bayerischen GemeindeZeitung Ihnen liefern würde!
Hier geht’s zum Abo!

 

GemeindeZeitung

Politik

AppStore

TwitterfacebookinstagramYouTube

Google Play

© Bayerische GemeindeZeitung