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(GZ-23-2021)
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► Perspektiven für die Bildungsdekade:

 

Weniger Präsenz und mehr Freiräume

 

Zunehmende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, Digitalisierung, neue pädagogische Arbeitsmethoden – das sind nur drei der vielen Herausforderungen, die an Bayerns Schulen neben den Belastungen durch die Corona-Pandemie bewältigt werden müssen. Im Rahmen einer Expertenanhörung im Bayerischen Landtag blickten die Abgeordneten des Bildungsausschusses in die Zukunft und diskutierten über Best Practice Beispiele.

Die Alemannenschule Wutöschingen wurde 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Bild: Robert Bosch Stiftung/Max Lautenschläger
Die Alemannenschule Wutöschingen wurde 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Bild: Robert Bosch Stiftung/Max Lautenschläger

Nur unter der Voraussetzung, dass sich der Unterricht an Bayerns Schulen in den kommenden Jahren erheblich ändert, können die Erwartungen an die Digitalisierung und Gesellschaft erfüllt werden. Das war die einstimmige Meinung der Expertenrunde, die im Bildungsausschuss zum Thema „Bildung 2030 – Perspektiven für die kommende Bildungsdekade“ Stellung bezog. Die Fachleute aus Praxis und Wissenschaft sprachen sich für moderne Unterrichtsformen ohne ständige Präsenz im Klassenzimmer, mehr Zeit und Freiräume für die Lehrkräfte, eine spürbare Aufrüstung bei der digitalen Ausstattung und eine modifizierte Lehrerbildung aus.

Lern- statt Lehrkultur

Wie die Schule der Zukunft aussehen könnte, schilderte Stefan Ruppaner, Schulleiter der Alemannenschule im württembergischen Wutöschingen. In der mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Gesamtschule gebe es keine festen Klassenzimmer und keine Schulbücher, dafür jahrgangs- und leistungsübergreifende Klassen mit Inklusionskindern, hybridem Unterricht und viel Freiraum für Lehrkräfte und Schüler innerhalb festgelegter Regeln, schilderte Ruppaner.

„Dafür ist das Digitale unabdingbar“, sagte er. Jeder Schüler habe ein digitales Endgerät, die Ausstattung sei zu einem großen Teil von Sponsoren aus der Wirtschaft finanziert. „Wenn man das alles richtig organisiert, ist es sogar günstiger als an herkömmlichen Schulen“, berichtete Ruppaner. Man habe den Weg von einer Lehr- zu einer Lernkultur beschritten, die von den Schülern mehr selbstorganisiertes Lernen verlange. Durch den engen, mitunter digitalen Kontakt zu den Lehrkräften sei dies ein Erfolgsprojekt.

Sprachbarrieren überwinden

Ein anderes Beispiel nannte Kai Wörner, Seminarrektor an der Realschule am Europakanal Erlangen. An seiner Schule gebe es seit 2011 „Tablet-Klassen“ und hybriden Förderunterricht in Präsenz und über digitale Medien. Auch Wörner betonte, dass dies ohne ein Endgerät für jeden Schüler nicht machbar sei. Voraussetzung sei zudem eine neue Lehrerrolle. Die Lehrkräfte nehmen die Rollen als Moderatoren und Förderer ein. Um sie darauf vorzubereiten, forderte Wörner eine entsprechend ergänzte Lehreraus- und -fortbildung.

Dass die Digitalisierung auch an Grundschulen Vorteile bringen kann, schilderte Simone Hell, Leiterin der Erich-Kästner-Grundschule Neu-Ulm. Mit der Hilfe digitaler Medien könne individueller auf Leistungsstand und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingegangen werden. Auch ließen sich Sprachbarrieren von Kindern mit Migrationsbiographie durch digitale Übersetzungsprogramme leichter überwinden. Bildung werde zudem zeit- und raumunabhängiger.

Digital und analog verbinden

Am besten sei eine „optimale Verzahnung von Digitalem und Analogem“, erklärte Hell, da vor allem jüngere Schüler noch auf den direkten Kontakt zur Lehrkraft angewiesen seien. Für Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), ist die Digitalisierung eine große Chance für die Schulen. Sie schaffe neue Möglichkeiten zum selbständigen Lernen sowie zur individuellen Wiederholung und Vertiefung des Lehrstoffes. Das unterstrich auch der Eichstätter Didaktik- Professor Heiner Böttger. „Digitalisierung und Individualisierung sind Best Buddies“, sagte er. Ein moderner digitaler Unterricht könne sich von festen Lernzeiten entkoppeln und damit besser auf die im Tagesrhythmus unterschiedliche Lernbereitschaft und Aufnahmefähigkeit von Kindern abgestimmt werden.

Bei entsprechender technischer Vollausstattung trage die Digitalisierung auch zu mehr Chancengleichheit bei, erläuterte Böttger. Er plädierte für eine individualisierte Leistungserhebung und Kompetenzdiagnose. Damit ließen sich Kinder besser fördern und motivieren. Die Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Weigand ergänzte, es brauche mit Blick auf die Digitalisierung überarbeitete Lehrpläne sowie neue Zeitmodelle für Lehrkräfte. Deren Einsatz könne sich künftig nicht mehr an einem festen Stundendeputat orientieren.

Konkrete Forderungen an Politik

An die Politik stellten die Experten einen Katalog mit konkreten Forderungen. Der Schulpsychologe Andreas Wohlgemuth vom Ortenburg- Gymnasium Oberviechtach forderte wie Weigand leistungsfähige Internet- Anschlüsse und eine moderne Digitalausstattung für alle Schulen. Diese bräuchten zudem kompetente Systembetreuer, um die Lehrkräfte von technischen Aufgabenstellungen zu entlasten.

Digitalisierung dürfe auch nicht dazu führen, Lehrpersonal einzusparen, warnte Wohlgemuth. „Die Aufgaben der Lehrkräfte werden nicht weniger, sie ändern sich nur“, sagte er. Ruppaner plädierte dafür, Schulen und Lehrkräften im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben mehr Freiräume zu lassen. „Ich bin immer froh, wenn man mich in Ruhe arbeiten lässt“, erklärte er. Dem pflichtete Fleischmann bei. Mit mehr Zeit und Freiraum für Schulleitungen und Lehrkräfte werde „Innovation möglich“.

Warnung vor Lernplankonformität

Abgeordnete der Opposition sahen sich in den Aussagen der Experten in ihren Forderungen an die Staatsregierung bestätigt. Es habe sich gezeigt, dass Bildung künftig viel mehr von den Schülerinnen und Schüler gedacht werden müsse, erklärte Gabriele Triebel (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN). Für das digitale Lernen brauche es im Sinne der Chancengleichheit endlich landesweit gleiche Rahmenbedingungen.

Dr. Simone Strohmayr (SPD) betonte, ein digitales Endgerät müsse für alle Schüler zur Normalität werden. Wie auch Matthias Fischbach (FDP) forderte sie eine entsprechende Ausweitung der Lernmittelfreiheit.

Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU) mahnte die „Lernplankonformität“ der digitalen Unterrichtsformen an. Zudem dürften Lehrerkompetenz und -persönlichkeit als Garanten guter Bildung nicht vernachlässigt werden. Skepsis äußerte Waschler zu individualisierten Lernstanderhebungen.

Tobias Gotthardt (FREIE WÄHLER) deutete auf die Notwendigkeit hin, Lehrer- und Elternschaft eng in den Prozess der Digitalisierung und Modernisierung des Unterrichts einzubinden. Andernfalls werde das Projekt nicht funktionieren.

 

 

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